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Ein Stuhlkreis konstruiert wie ein Szenenbild, Straftäter, Opfer, die ein oder andere Träne. So versucht Jeanne Herry die in Scherben liegenden Leben ihrer Figuren zu reparieren.

All eure Gesichter (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Scherben aufsammeln im Dialog

Jeanne Herry beschäftigt sich in All Eure Gesichter mit der Restorative Justice, einem Programm in Frankreich, in dem Opfer und Täter:in von ähnlichen Straftaten in einen Dialog treten können. Als „gruppentherapeutischer“ Stuhlkreis mit Fremden oder in einem direkten Gespräch zwischen Opfer und Täter:in. Der Film verfolgt sowohl die Vorbereitung als auch die Ausführung dieser Gespräche und begleitet exemplarisch zwei Fälle. In einem geht es um eine Gruppe, die verschiedene Formen von Überfällen erfuhr und im zweiten um Chloé (Adèle Exarchopoulos), die von ihrem Bruder sexuell missbraucht wurde. 

2023 war das Jahr der Schauspielerin Adèle Exarchopoulos. Nach dem Gefühlschaos in dem zersplitterten Liebesdrama Passages (2023) und dem Festival-Hit The Animal Kingdom (2023), bekommt die Französin auch in All Eure Gesichter viel Raum zu glänzen. Gleiches lässt sich über das gesamte Ensemble sagen. Jede:r der hervorragenden Schauspieler:innen bekommt sein eigenes Gespräch mit der Kamera. Der Film wird vielmehr eine chronologische Ansammlung von Szenen als ein kohärentes Machwerk. Mit der Kamera wird experimentiert, es bilden sich allerdings keine Versuchsaufbauten, die Person und ihre Geschichte bleibt stets im Fokus – eine kohärente Bildsprache entsteht so allerdings nicht. 

Die größte Stärke des Films liegt in der Wärme und Ernsthaftigkeit der Dialoge. Der Prozess, in dessen Verlauf die Gespräche feinsäuberlich geplant und vorbereitet werden, beeindruckt. Gepaart mit dem vorbehaltlosen Interesse, das sowohl Opfern als auch Täter:innen entgegengebracht wird, entsteht durch sie ein Raum der kontrollierten Emotionalität. Auch Wutausbrüche sind erlaubt, Tränen ebenso. Etwas im Gegenzug erhalten die Straftäter (allesamt männlich) nicht – kein quid pro quo. „Ich würde gerne die Täter verstehen“, sagt eins der Opfer – „Ich würde gerne die Opfer verstehen“, antwortet einer der Straftäter. 

Ergebnisse von Gewalt – Vorurteile und kategorische Gedanken – werden vorgeführt. Nicht bewertet, aber als mögliche Konsequenz von Traumata artikuliert. Eine der Teilnehmerinnen der Gespräche hielt so einen der anwesenden Männer augenblicklich für einen der Straftäter. Als sie auf ihre Vorurteile hingewiesen wird, verleiht sie ihm lediglich eine positive Konnotation und entgegnet: „Gut, dann kannst du uns vor denen beschützen“. Der Film trägt Samthandschuhe, um seine Zuschauer:innen mit den angesprochenen Themen nicht zu belasten. Er gleicht dem mühseligen Aufsammeln von Scherben von etwas, das vor langer Zeit zerbrochen ist. 

Im Stuhlkreis wird ein „Talking-Stick“ umhergereicht, um das Wort ergreifen zu dürfen. Aus dieser Notwendigkeit entsteht ein eigener Akt der Wertschätzung. Gibt man als Opfer den „Talking-Stick“ direkt zum Straftäter, legt man ihn ab oder wird er von Person zu Person herumgereicht? Zwischen den Zeilen geschieht mehr als in den langen Erzählungen.  

Der Film verbringt seine 115 Minuten damit, den Unterschied zwischen „Schuld“ und „Schuldgefühl“ herauszuarbeiten. Die Straftäter sind sich ihrer Schuld bewusst, keiner von ihnen streitet die Übergriffe ab. Die Gespräche sollen nun dort ansetzen und dieser Schuld Tiefe – ein Bewusstsein der Konsequenzen – hinzufügen. Keine sozialen Umstände wären Auslöser der Taten, das Individuum soll sich aus seiner Umgebung heraus emanzipieren. Was fehlt: auf Faktoren wie Klassenunterschiede, Herkunft und Lebensrealitäten einzugehen, doch der Film setzt sich das Mantra, nicht in der Vergangenheit zu schweben, sondern nach vorne zu schauen. Seine Kernaussage lautet dementsprechend: „Jeder kann es schaffen“. 

Therapeuten – oder „bezahlte Freunde“, wie der Film sie augenzwinkernd nennt — werden zwar immer wieder erwähnt, aber so ganz scheint All eure Gesichter ihnen nicht zu trauen. Keines der Probleme des Ensembles konnte so gelöst werden. Was drei Jahre von Therapie nicht schaffen, das sei durch die Gespräche im Handumdrehen geheilt worden. Das ist zwar ideologisch erfrischend, unterliegt aber schlussendlich nur dem Narrativ: „Ein Feind ist nur ein Held, dessen Geschichte wir nicht noch nicht gehört haben“. 

All Eure Gesichter ist handwerklich hochklassig, und die Individualleistungen der Schauspieler rühren zu Tränen. Hinter und neben all dem werden einige fragwürdige Ansichten platziert. Wenn die Musik langsam ausklingt und jeder seiner Wege geht, dann reicht Jeanne Herry den „Talking-Stick“ weiter — an uns, das Publikum. 

All eure Gesichter (2023)

Seit 2014 gibt es im französischen Justizwesen sichere Einrichtungen, in denen Täter und Opfer unter Aufsicht von Experten und engagierten Laien miteinander sprechen können. Diese sogenannte „restaurative Justiz“ stammt aus dem angelsächsischen Raum und findet auch in Mitteleuropa langsam Verbreitung.

„All eure Gesichter“ erzählt verdichtet von diesen Begegnungen, von Wut, Angst und Hoffnung, Schweigen und der erlösenden Kraft der Worte, von Misstrauen und Vertrauen, von ungeahnte Gemeinsamkeiten und manchmal auch von echter Wiedergutmachung.
 

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