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Der dritte Spielfilm des chinesischen Regisseurs Wei Shujun ist ein philosophischer Noir-Thriller mit dichter Atmosphäre. Die Geschichte um eine unaufgeklärte Mordserie wirkt zuerst vertraut. Als Ermittlungen immer nur neue Rätsel hervorbringen, entsteht eine verregnete Traumlandschaft.

Only the River Flows (2023)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Regen, Rauch und Rätsel


Es gibt keine Poesie ohne das Risiko der Lächerlichkeit. Sie sticht hervor, weil sie unsere Welt anders zeigt, als wir sie normalerweise sehen. Man lacht über die Bilder, die sie heraufbeschwört, so wie man über sich selbst im Spiegelkabinett lacht. Differenz fordert heraus.  Die Romanadaption „Only the River Flows“ des chinesischen Filmemachers Wei Shujun hat eine interessante Szene, die sich mit Poesie beschäftigt. Ein Schüler trägt ein Gedicht vor. Vielleicht ist es ein wenig schwülstig und pompös, seine Mitschüler lachen. Der Lehrer ermahnt die Klasse erbost: „Nicht lachen! Ein Gedicht ist etwas Reines und Ernstes. Es ist eine Konfrontation mit sich selbst. Die Gedichtrezitation kann viele Formen haben. Ich finde seinen Versuch ausgezeichnet. Sehr ehrlich. Einen Applaus für die Ehrlichkeit.“ Natürlich ist dieser erzwungene Applaus alles, nur nicht ehrlich. Wer will für den Versuch gelobt, wer unter Zwang beklatscht werden?

Der philosophische Kriminalfilm nach einer Novelle von Yu Hua versteht sich sicher als eine der vielen Formen, die eine Gedichtrezitation annehmen kann. Er ist rein und ernst, und es wird sicher Menschen geben, die über ihn lachen. Die Geschichte einer tragischen Mordserie im ländlichen China des Jahres 1995 beginnt als klassischer Noir-Thriller, strebt dann aber ins Poetisch-Surreale. Hin zu Träumen und Projektionen.

Die Realität ist für Ermittler Ma Zhe (Zhu Yilong) ohnehin nicht leicht zu ertragen. Seine Frau ist schwanger, aber nach einer Untersuchung warnt die Ärztin vor einem möglichen Gendefekt. Ma ist oft einsam; wenn ein Bild des Films zwei Ebenen hat, dann teilt er sich seine selten mit anderen. Und der Mord an einer alten Frau, die alle im Dorf nur Oma Vier nennen, hat viele Indizien, aber scheinbar keine richtige Lösung. „Keine Angehörigen. Sie hat einen Irren adoptiert“, heißt es am Tatort. Der rätselhafte junge Mann mit den psychischen Problemen ist schnell als Täter ausgemacht. Die kommunistische Partei ist hauptsächlich auf positive Schlagzeilen aus. Doch Ma ist skeptisch und widmet sich dem Fall, bis es ihm zunehmend beruflichen und seelischen Schaden zufügt. Der Fall ist für ihn auch eine Konfrontation mit sich selbst – etwas scheint in seinem Leben zu fehlen.

Only the River Flows ist ein Film, der sein Publikum umschließt. Jedes Bild ist verregnet oder zigarettenverqualmt und finster noch dazu. Eine oppressive Atmosphäre. Geformt von muffiger Parteipolitik, engem Dorfleben und der Existenzkrise des Protagonisten. Der Film beginnt mit einem Camus-Zitat, aber selbst der französische Schriftsteller wäre wohl unsicher, ob wir uns Ma wirklich als glücklichen Mensch vorstellen müssen. Ein kaltes Blau überstrahlt gerade nachts die sonst gedeckte Farbpalette.

Wie jeder im voranschreitenden 21. Jahrhundert auf Zelluloid gedrehte Film handelt auch Only the River Flows von seiner eigenen Materialität. Von der Rolle des Objekts Film in der Gesellschaft. Ma und seine Einheit finden Unterschlupf in einem baufälligen Kino, zwischen Spinnweben und rostenden Filmdosen. Sie stellen ihre Pinnwände und Schreibtische auf die kleine Bühne vor der Leinwand und spielen ein Drehbuch namens Mordermittlungen. Polizeiarbeit als Film, Film als Polizeiarbeit. Was hier bedeutet: Etwas wissen wollen, aber nur neue Geheimnisse finden. Alles ein großes Puzzle, so wie das, an dem sich die Frau des Ermittlers abmüht.

Viele Requisiten kommen zum Einsatz: Schweinehälften, an denen man Tatwaffen erprobt. Mas wichtigster Anhaltspunkt ist eine Kassette mit Aufnahmen der Ermordeten. So begleitet ihn immerzu eine Stimme aus dem Jenseits.  Und wir sehen Filmstreifen in Nahaufnahmen und gleich mehrfach hält die Kamera auf das Licht von Projektoren. Das Korn des 16mm-Materials legt sich wie Regen oder Rauch als Textur über die Dinge. Eine Patina auf der Welt, ganz unabhängig von jedem Materialfetisch, sieht Only the River Flows bemerkenswert aus. Wie eine Entsendung aus einer anderen Zeit. Eine Stimme von anderswo.

Der Titel des Films ist dabei nicht unbedingt präzise. Überall rauscht und gurgelt es, schon die ersten Geräusche des Films eröffnen eine Welt im ständigen Fluss. Wei Shujun zeigt sie in Tableaus.  Der Film lebt und atmet in seinen Totalen, die eine Art Einsamkeitsbildband ergeben. Natur bedeutet hier oft nur die Abwesenheit von Menschen.

Visuell und dramaturgisch geschieht also immer gleichzeitig alles und nichts. Ma trifft Verdächtige, die Zahl der Opfer mehrt sich, die Recherche endet nie, und gleichzeitig ist kaum etwas gewonnen und die Ermittlung kommt nie voran. Bis der Film sich später ins Fantastische flüchtet. Während man vorher wohl Bong Joon-ho, Kyoshi Kurosawa oder Diao Yinan zum Vergleich heranziehen könnte, übernehmen im letzten Drittel Bergman, Buñuel und der große Wasserfilmer Tarkowski. Über den Erfolg der Traumbilder muss man diskutieren. Im falschen Licht kann man sie für etwas holzschnittartige Symbole halten, zu groß und zu abgegriffen. Aber selbst wenn – Only the River Flows ist die Art von Film, bei der man nicht den Versuch, sondern das Scheitern beklatschen sollte.

Andererseits sind diese Sequenzen nah genug am Rest des Films, um eine gleitende Kontinuität zu erzeugen. In der Poesie gelten scheinbar dieselben Regeln, die Schwerkraft des Alltags wirkt dort weiter, bis man sie außer Kraft setzt. Und das wiederum gilt auch außerhalb der Träume. Die Verdächtigen sind immer auch Opfer, in der Regel die Art von Mensch, die zu weit aus der einheitlichen Dorfdurchschnittlichkeit hervorragen. Differenz fordert heraus. Eine junge Frau, die unter ihrer tyrannischen Mutter leidet. Ein Friseur, der schon einmal im Gefängnis war und nur auf seine erneute Verurteilung wartet. Der übermäßig neugierige Junge, der von seinem Vater erst für einen Lügner gehalten wird. Und eben Ma selbst, der halb rebellisch, halb verzweifelt mit seiner Lederjacke unter Uniformierten steht. Diese Neunzigerjahre zeigen auch auf die Gegenwart und fragen: Ist es heute so anders? Geschieht etwas, wird es besser, oder fällt nur der Regen?

Only the River Flows (2023)

Als in den 1990er Jahren eine Stadt irgendwo in der Provinz von einer Mordserie heimgesucht wird, kann der Polizeichef Ma Zhe schnell eine Festnahme vermelden. Doch das seltsame Verhalten der Bewohner*innen bringt ihn dazu, noch tiefer zu graben, um das Geheimnis, was hinter alldem steckt, zu enthüllen.

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