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Pedro Costas in Locarno mit dem Goldenen Leoparden ausgezeichnete Film „Vitalina Varela“ nimmt die Zuschauer mit auf eine düstere Reise in die unwirklichsten Winkel Lissabons und zeigt dabei die Lebensgeschichte einer Frau auf, die mit 40 Jahren Verspätung nach Portugal kommt und sich dort mit dem Tod ihres Mannes konfrontiert sieht.

Vitalina Varela (2019)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Traum Haus

Einstellungen wie ein Leben: Aus dem Schatten, für einen Augenblick im Licht, zurück in den Schatten. Dunkelheit ist in Pedro Costas „Vitalina Varela“ der Grundzustand. Sie umschließt alles, den Film ebenso wie den Ort, den er zeigt, die ärmsten Stadteile von Lissabon. Auf jedes Bild blickt man wie durch einen Riss in einer schwarzen Hülle. Es ist immer Nacht, selbst am Tag. Eine bezeichnende Anekdote aus der Karriere des Regisseurs hat mit dem Licht und seinem Verschwinden zu tun: Als während der Dreharbeiten für „Ossos“ klar wurde, dass Lärm und Scheinwerfer die Anwohner wachhielten, veränderte er seine Herangehensweise radikal. Unter anderem verzichtete er fortan auf große, professionelle Beleuchtungsanlagen, um stattdessen bestehende Quellen etwa mit Spiegeln zu verstärken. Weil Costas Filme dunkel sind, lassen sie Raum, sich zu verbergen. Sie maßen sich nicht an, eine fremde Welt auszuleuchten, sondern verwenden ihre Kraft, sich selbst zu präsentieren.

Als der Film beginnt, ist gerade einer zurück in den Schatten getreten: Joaquim, ein Maurer, Koch und Elektriker, ein Trinker. Ein Gefangener. Ein schlechter Ehemann, der seine Frau vor langer Zeit in Kap Verde zurückgelassen hat mit dem Versprechen, sie nachzuholen. Es ist nicht seine Geschichte, sondern ihre. Nach vierzig Jahren des einsamen Wartens steigt sie in Lissabon aus dem Flugzeug. Die Kamera folgt ihren nackten Füßen und die vier Jahrzehnte lasten auf jedem Schritt. Auf ihnen liegen dicke Tropfen, vielleicht sind es Tränen. Die Flugzeugtür steht offen, bevor der Rollsteg herangefahren wird. Vitalina Varela wird empfangen wie eine Exilkönigin, die in die Heimat zurückkehrt, nur eben von fünf Reinigungskräften, die ihre Wischmobs wie Zeremonienstäbe und schwarze Müllsäcke mit sich tragen. Ihre Grußworte heißen nicht unbedingt willkommen: „Vitalina… Mein Beileid. Du kommst zu spät. Das Begräbnis deines Mannes war vor drei Tagen. Hier in Portugal gibt es nichts für dich. Sein Haus gehört dir nicht. Geh zurück nach Hause.“

In diesen knappen Worten liegen viele der Fragen und Bezugspunkte von Vitalina Varela. Es ist ein Film über das Zuspätkommen, über ein verfehltes oder geraubtes gemeinsames Leben, das immer Möglichkeit und Hoffnung war und im endgültigen Verschwinden eine Wunde schlägt. Das Schließen dieser Tür öffnet keine neue. Es ist ein Film über ein Begräbnis, eine filmische Trauerzeremonie, die in der Realität nicht – oder nicht so – stattfinden konnte, und jetzt eben im Kino einen Raum erhält. Es ist eine Geistergeschichte, insofern sich unentwegt Vergangenheit und Gegenwart begegnen und Leben als Echo und Trauma nachwirken. Es ist ein Film über Menschen, für welche die Welt nichts bereithält, die ewig nach Orten und Objekten suchen, die wirklich ihnen gehören. Etwas, das Leben und Erinnerungen physisch in der Welt verankert. Man sieht an Joaquim, wie wenig manchmal bleibt. Und es ist ein Film über Häuser und Zuhause, über die Sicherheit, die Stahl und Beton, zu Räumen geformt, einem Menschen geben können. Immer wieder geht es um das Bauen: als Möglichkeit, Beständigkeit zu schaffen und als Arbeit, die mit den eigenen Händen verrichtet werden muss.

Wie der Titel zeigt, ist es aber vor allem ein Film über einen Mensch, das Porträt einer zornigen Enttäuschten. Vitalina Varela spielt sich selbst – oder zumindest eine Version ihrer selbst — und hat am Drehbuch mitgewirkt. Der Film hört ihr zu, sie beherrscht viele der Bilder und strahlt tatsächlich eine fast staatsmännische Stärke und Würde aus. Costa lässt sie von seinem Kameramann Leonardo Simões aus immer neuen Winkeln filmen. Vitalina wird erforscht und hält jedem Blick stand. Sie behauptet sich unentwegt als Frau in einer Welt, die offensichtlich von und für Männer gebaut wurde. „Das Gesicht einer Frau im Sarg verrät ihr Leiden nicht“, erklärt sie und lebt. Eine Aura von strengem Ernst umgibt sie. Meist trägt sie schwarze Trauergewänder und ein schwarzes Kopftuch; sie verbirgt sich, wie es auch die Schatten tun. Wo ihre Haare offen liegen, wirkt sie verletzlich, als hätte sie unwillentlich etwas von sich preisgegeben.

Costa präsentiert sie in verschiedensten Posen, wie Gemälde komponierte Einstellungen. Auf ihr Bett abgestützt, die rechte Körperhälfte ins Licht gebeugt, die linke in der Dunkelheit verloren. Ein Mensch, in Hälften zerbrochen. Ihr Kleid wirft sanfte Falten, sie berichtet von ihrer Hochzeit im Jahr 1982. Sprechendes Erinnern. Ein altes Bild aus dieser Zeit steht neben dem Bett. „Von dieser Liebe und Klarheit ist nichts mehr übrig.“ Man fragt sich kurz, ob hier wohl früher alles hell war. „Ich vertraue dir weder im Leben noch im Tod.“ Ihre Trauer ist immer auch Anklage. Die glücklichen gemeinsamen Momente liefern den Kontrast zum Folgenden, sie sind grausam in ihrer Vereinzelung. Noch der Tod kann egoistisch sein. Vitalina verfällt nicht in die Akte von Vergebung und Barmherzigkeit, die man von ihr erwartet, sondern begegnet dem Verlust auf ihre Weise. Sie geht auf Expeditionsreise durch ein Leben, das auch ihres hätte sein können. In Gesprächen wird Joaquims Zeit in Lissabon offengelegt, Stück für Stück.

Der Film stellt ihr eine Vergleichsfigur entgegen, einen anderen Enttäuschten und Trauernden. Es ist der Mann, der Joaquim begraben hat, ein zweifelnder, gottverlassener Priester mit zitternden Händen. Gespielt wird er von Ventura, Pedro Costas Stammschauspieler, der seit mehr als einem Jahrzehnt führ ihn vor der Kamera steht. Er zieht durch die Finsternis, auf der Suche nach Antworten oder einem Zeichen. Er spricht, als würde er dichten oder beten, oder beides zugleich. „Ich gehe, ich gehe.“, meint er, und auch: „Das Leben ist nicht so leicht.“ Er hat seiner Gemeinde viel gegeben, jetzt allerdings ist er aufgebraucht. Erschöpft, am Ende. Keiner kommt mehr in seinen Gottesdienst, seine „Kirche“ steht voll von leeren Stühlen. Es ist kaum mehr ein sakraler Ort, im Hintergrund hört man das Gackern der Hühner. Kein Heiligenschein umgibt den Priester, das Licht erlaubt gerade noch, etwas zu sehen.

Nur einmal kurz rückt die Kamera ihn in eine Aureole: Er wird durch eine kreisförmige Öffnung in einem Gitter gefilmt, von der Stränge wie Strahlen ausgehen. Heiligkeit durch Architektur, er müsste wohl selbst eine Kirche bauen. Auch Vitalina wird durch Gitter gefilmt, in Lissabon ist sie eine Gefangene, alles deutet unentwegt drauf, dass sie auch hier nicht glücklich wird. Nur: wo dann? In Gesprächen mit dem Priester wird selbst der Himmel zum Ort der Angst. In Vitalina Varela kann ein Zuhause nur entstehen, wo man es selbst erbaut, aber das ist teuer.

All diese Probleme kann man durch Sprechen vielleicht nicht komplett beseitigen, doch Worte haben in diesem Film eine besondere Kraft. Sie verändern, bringen etwas hervor. Vitalinas Stimme kratzt und schmirgelt unheilschwanger, wie ein rostiges Werkzeug. Wo sie spricht, kehrt sich vertraute Logik um: Jeder ihrer Monologe ist eigentlich ein Dialog, ganz direkt spricht sie mit dem verstorbenen Joaquim. Mit seinem Geist, mit seiner spürbaren Abwesenheit. Jeder ihrer Dialoge wirkt wie ein Monolog, oder eben wie zwei Monologe nebeneinander, die einander sicherlich berühren, aber nie ganz zusammenfinden. Auch wenn es durchaus Momente des Zusammenkommens gibt, ist das nächtliche Lissabon oft einsam.

Man schaut auf diese Stadt, wie sie für Costa erscheint, und kann kaum glauben, dass es diese Orte wirklich geben soll. Das sie nicht ganz Fantasie, Traum oder Alptraum sind. Einmal blickt die Kamera durch eine Art Kanal, ein langes Abwasserrohr, mit dicken, an Adern erinnernden Schläuchen an den Wänden. An seinem Ende sieht man die Lichter der Stadt. Ein Bild wie aus einem Science-Fiction-Film. Alles so real wie schwer zu fassen. Durch die Digitalkameras glänzt selbst die heruntergekommenste Seitengasse, alles ist dreckig texturiert und glatt zugleich. Eine Schönheit, die das Leiden nie verheimlicht, aber nach mehr sucht. Ein Film, der sich seinen Figuren annähert, ohne sie bloßzulegen.

Wenn am Ende die Dunkelheit weicht, kann man es kaum glauben. Der Trauerschleier des Films wird gelichtet, Vitalina verlässt das Schattenreich. Sie kann hier nicht wohnen und nicht leben. Die Reise geht weiter. Es bleibt der Traum von einer eigenen Welt, erbaut mit rauen, schwieligen, vielleicht auch mit zitternden Händen. Ein Haus aus eigenen Steinen und eigenem Zement, dass ein Zuhause sein kann. Ein Ort, an dem Ruhe einkehrt, an dem die ewige Suche endet. Und wenn sie es nicht selbst schafft, dann gelingt es einer anderen. Jedes Leben ist gebaut, jedes Leben baut.

Vitalina Varela (2019)

Die von den Kapverdischen Inseln stammende, 55 Jahre alte Vitalina Varela kommt drei Tage nach der Beerdigung ihres Mannes in Lissabon an. Sie wartete seit 25 Jahren auf ihr Flugticket.

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