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Wie lebt es sich in einem Land voller Kriege? Im Gespräch mit ihrer Mutter, der Mathematik-Professorin und Freiheitsaktivistin Srbijanka Turajlić, erzählt Mila Turajlić in ihrem Dokumentarfilm die Geschichte Serbiens und stellt provozierende Fragen.

Die andere Seite von allem - Eine politische Geistergeschichte (2017)

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Hinter verschlossenen Türen

70 Jahre lang trennen zwei verschlossene Türen die Wohnung der Familie Turajlić vom Rest ihres ehemaligen Eigentums. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten Funktionäre des kommunistischen Regimes in Serbien die Wohnung geteilt und weiteren Bürgern zur Verfügung gestellt. Zu diesem Zeitpunkt war Srbijanka Turajlić zwei Jahre alt, und sie kann sich eigentlich gar nicht mehr daran erinnern, dass die Wohnung einmal größer war. Srbijanka Turajlić ist Mathematik-Professorin und eine der wichtigen Freiheitskämpferinnen in ihrem Land. Sie steht für die Rechte der Bürger, für Freiheit und demokratische Werte ein und erzählt nun im Dokumentarfilm ihrer Tochter Mila aus ihrem Leben unter den verschiedenen Regimen.

Dies tut sie mit viel Selbstkritik: „Wenn ich tatsächlich eine Freiheitskämpferin bin“, sagt sie, „ist die Freiheit, die ich gewonnen habe, gleichzeitig das größte Scheitern meines Lebens.“ Sie erzählt von der Mathematik-Olympiade in Moskau, an der sie 1964 teilgenommen hat, ebenso wie aus der Zeit der Bürgerkriege und der Hyperinflation. Durch ihre Erzählungen wird die Vergangenheit, wird Geschichte lebendig, und man begleitet sie zurück in das Jahr 1993, als die Supermärkte leer waren und die Geldscheine sechs oder sieben Nullen zierten. In einem Jahr habe sie zunächst 5.000 Dinar verdient, dann 50.000, schließlich 500.000. Ein Begriff wie Inflation wird damit greifbar, das Elend, unter dem die Menschen in Serbien zu dieser Zeit lebten, verständlich.

Filmemacherin Mila Turajlić unterhält sich mit ihrer Mutter und befragt sie nach ihrem Leben. Die Kamera ist immer dabei, auch in unangenehmen Situationen, bei Fragen, die Srbijanka Turajlić provozieren, oder auch während hitziger Diskussionen unter Freunden, die zum Abendessen kommen. Dabei sind es die kleinen Details, die Turajlić mit ihrer Kamera auffängt, die den Film so wertvoll machen: So klingeln die Freunde nach wie vor drei Mal an der Tür, ganz wie in alten Zeiten, als dies das Erkennungszeichen war – der Geheimdienst läutete grundsätzlich immer nur einmal. Schade ist es bisweilen, dass man sich gut in der Geschichte des Balkans und insbesondere Serbiens auskennen muss, um vieles des im Film Gesagten zu verstehen; hier es hätte an mancher Stelle nicht geschadet, etwas mehr Hintergrundwissen mitzuliefern.

Gemeinsam mit ihrer Mutter sieht sich die Regisseurin alte Filme an, von Demonstrationen oder Reden, die die Professorin vor der Masse oder bei Ehrungen gehalten hat. Deren Kommentar ist häufig trocken: „Die Rede war gut, aber zu lang“, sagt sie etwa, nüchtern, ganz klar. Überhaupt ist es diese Klarheit, mit der Turajlić argumentiert, die überzeugt und an der Hauptfigur des Films so begeistert. Srbijanka Turajlić schaut mit einer unerschütterlichen Klarheit auf die Welt, auf die Gesellschaft und Politik um sie herum, aber auch auf ihr eigenes Tun. Nach der Revolution 1996 war sie selbst als Bildungsministerin Teil der Regierung, gibt aber zu: „In dieser ersten Regierung waren wir eigentlich nur wohlmeinende Amateure. Wir wussten schon, was wir zu tun hatten. Unser Problem war, dass wir nicht wussten, wie ein Staatsapparat funktioniert.“

Srbijanka Turajlić hat lange gekämpft und steht auch immer noch für ihre Werte ein. Das Kämpfen aber überlässt sie jetzt der nächsten Generation, ihren Töchtern, deren Fazit ist: „Man kann in diesem Land nicht leben.“ Weggehen, auswandern, reisen – aber das löse die Probleme für Serbien auch nicht, entgegnet Srbijanka Turajlić. Sie könne keine Reden halten, sagt Mila dagegen – aber eben Filme machen. Und das ist vielleicht umso wertvoller, weil er im besten Fall mehr Menschen erreichen kann als so manche Ansprache. 

Die andere Seite von allem - Eine politische Geistergeschichte (2017)

Eine Wohnung in Belgrad, die vor vielen Jahren in zwei Hälften — getrennt durch eine fest verschlossene Tür — aufgeteilt wurde, ist der Ausgangspunkt für Mila Turajilics Film. Sie selbst ist auf der einen Seite aufgewachsen und kennt dementsprechend nur diese eine Sicht der Dinge. In Gesprächen mit ihrer Mutter, einer überzeugten politischen Aktivistin, taucht die Filmemacherin in die Vergangenheit der Wohnung und ihrer Bewohner ein — und damit auch in die Geschichte eines Landes, das früher einmal Jugoslawien hieß.

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