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Fast 25 Jahre hat es gedauert, bis Steve McLean („Postcards from America“) seinen zweiten Langfilm im Kasten hatte. Mittendrin: ein bildhübsches Landei, das in Soho mit kunstinteressierten Männern aus einer Callboy-Gruppe anbandelt und versucht, sein Leiden am Stendhal-Syndrom in den Griff zu bekommen.

Postcards from London (2018)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Caravaggios postmoderne Szenekinder

Jim ist abgehauen. Der bildhübsche Jüngling (Harry Dickinson) aus Sussex wollte schnellmöglich raus aus der miefigen Provinz und weg von seinem Elternhaus mit den grotesken Seventies-Tapetenmustern und allerhand vorgefertigten Denkmustern am heimischen Esstisch. Mit etwas Geld in der Tasche landet er im nächtlich-turbulente Treiben in Soho: seinem Sehnsuchtsort für ein selbstbestimmtest schwules Leben in der englischen Kapitale.

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Ohne große Ideen für seine konkrete Zukunft, ausgeraubt und eher zufällig denn gewollt schließt sich der obdachlose 18-Jährige schließlich den „Raconteurs“ an, einer pseudointellektuellen Callboy-Gruppe, die sich dem Reden über Kunst wie selbstverständlich auch dem Praktizieren körperlich-sexueller Kunst verschrieben hat: mit vollem Einsatz und gegen einen Obolus, versteht sich.

Deren rhetorisches Spezialgebiet sind die frühbarocken Meister wie Caravaggio, dessen bildliche Meisterwerke von Steve McLeans Kamerafrau Annika Summerson gleich reihenweise in ebenso ästhetisch bezaubernde wie lustvoll ironische Einstellungen übersetzt werden. Dieses überaus quirlige und voller Selbstreferenzen steckende LGBTQI-Kinokunststück verdient in Sachen Bildmächtigkeit und visuellem Einfallsreichtum wirklich Bestnoten und entfaltet speziell in den mehrmaligen Ohnmachtsszenen des blauäugigen Protagonisten, der am Stendhal-Syndrom leidet, schnell seinen eigenen Zauber.

Obendrein ist hier nahezu alles Zitat, Hommage, Referenz oder – je nach Standpunkt oder Vorbildung in puncto New Queer Cinema – pures Stehlen. In einer hochgradig dekorierten Ausstattungswelt mit Neon-Farben und in auffälligem Licht- und Schattenspiel, die filmische Szene-Klassiker wie Rainer Werner Fassbinders Querelle, James Bidgoods Pink Narcissus oder die queeren (Foto-)Kunstwelten von Pierre et Gilles oder Gilbert & George offen evoziert, gefällt sich McLeans zweiter Langfilm nach 25 Jahren Pause als Filmemacher von Anfang an selbst am allermeisten.

Ganz ähnlich zum radikal eigensinnigen Schaffen von Rainer Werner Fassbinder, Oscar Wilde, Pier Paolo Pasolini, Wong Kar-wai, Kenneth Anger oder Francis Bacon, die allesamt Pate für Postcards from London standen und nicht allein im Dialog ausführlich reflektiert werden, ist auch Steve McLeans vogelwild bebilderte Coming-of-Age-Story aus dem distinguierten Escort-Boy-Milieu im Grunde kaum von seinem Schöpfer zu trennen.

Denn wie schon bei seinem Vorgänger Postcards from America (1994) hat McLean für diesen vollkommen autoreflexiven und mit reichlich Selbstironie in Szene gesetzten Film auf eine Reihe autobiografischer Schriften von David Wojnarowicz (1954 — 1992) zurückgegriffen, der sich in den 1980er Jahren im quicklebendigen New Yorker East Village als Performance-Künstler, Fotograf, Poet, Musiker und Filmproduzent einen Namen gemacht hatte.

Dort arbeitete Wojnarowicz in dieser Zeit beispielsweise mit Peter Hujar, Nan Goldin, Richard Kern, Bob Ostertag oder Kiki Smith. Andauernd suchte er sich persönliche „Musen“, die er zu „Superstars“ formte und mit denen Super-8-Filme mit Titeln wie „Heroin“ drehte oder Foto-Serien über Arthur Rimbaud startete, ehe er 1992 an den Folgen von AIDS starb. In Wojnarowicz‘ Aufzeichnungen wie in McLeans gekonnter Personenregie wird sogar das mit aufmüpfigem Humor konterkariert, was Postcards from London zwischendrin immer wieder herrlich auflockert.

Das ist alles in allem aber auch sehr notwendig: Denn wer von Kunstgeschichte keine Ahnung oder Kultfilme des New Queer Cinema (wie Derek Jarmans Sebastiane, Caravaggio oder Edward II) noch nie gesehen hat, wird sich trotz andauernder Farbexplosionen auf der Leinwand und einem oftmals reizend subversivem Unterton in all dem Namedropping, das Postcards from London exerziert, schnell verlieren – und wahrscheinlich auch langweilen. Wer dagegen My Private Idaho, Paris is Burning oder die exaltierten Video-Clips von Derek Jarman aus den 1980ern verehrt, wird in und an Postcards from London seine helle Freude haben.

Oder um es in den realen Worten Lucian Freuds, der szenenweise in Wort und Bild zitiert wird, zu sagen: „Mein Werk ist rein autobiographisch. Es ist über mich selbst und meine Umgebung. Es ist ein Versuch eines Berichts. Ich arbeite über Leute, die mich interessieren, die ich mag und über die ich nachdenke, in Räumen, in denen ich lebe und die ich kenne.“ Genau mit dieser Haltung ist Steve McLean erneut ein sehenswert subversiver Budenzauber gelungen, der sich zwar nie vollständig zwischen Ehrerbietung und eigener Stilitistik entscheiden kann, aber so what!? Hauptsache die Hose, pardon, die Pose stimmt.

Postcards from London (2018)

Den ebenso begabten wie gut aussehenden Jim verschlägt es aus dem nordöstlich von London gelegenen Essex nach Soho. Und gleich in seiner ersten Nacht wird er ausgeraubt, doch er findet bei den „Raconteurs“ Zuflucht, einer Gruppe von Callboys, die sich der Kunst ebenso wie dem Sex verschrieben hat und der er sich anschließt …

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