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Ein Vater lebt mit seiner Tochter versteckt im Wald. Mit „Leave No Trace“ blickt Debra Granik wieder auf die Ränder der amerikanischen Gesellschaft – und erneut ein junges Talent.

Leave No Trace (2018)

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Into the Woods

Wohin geht man, wenn die Gesellschaft einen im Stich gelassen hat? Für Will (Ben Foster) ist die Antwort einfach: in den Wald. Seine 13 Jahre alte Tochter Tom (Thomasin McKenzie) hat er mitgenommen. Er erzieht sie liebevoll allein, ohne Zutun anderer. Gemeinsam leben sie in einem Nationalpark nahe Portland. Geschlafen wird im Zelt, Wasser sammeln sie in einer Plane, Pilze im Wald. Will weiß, wie man in der Wildnis überlebt. Er war früher Soldat. Manchmal schreckt er nachts aus Alpträumen hoch, in denen ihn das Geräusch rotierender Helikopterblätter verfolgt. Seiner Tochter zeigt er, wie sie sich verstecken und ihre Spuren verwischen soll. Das ist kein Picknick und auch kein Spiel für die beiden. Der Park ist öffentliches Land, offiziell dürften sie hier nicht sein.

Debra Granik nimmt mit Leave No Trace eine Familie am Rand der amerikanischen Gesellschaft in den Fokus. Der Film ist damit eine konsequente Weiterführung ihres Blicks auf das Thema. In ihrem Film Winter’s Bone (2010) kämpfte das Mädchen Ree um das Überleben ihrer Familie in den Ozarks und musste dafür die Knochen ihres drogendealenden Vaters finden – Granik gab damit der damals noch unbekannten jungen Schauspielerin Jennifer Lawrence die erste Hauptrolle. Auch in Leave No Trace setzt sie wieder auf eine junge, noch unbekannte Schauspielerin: Thomasin McKenzie. Und sie erweist sich abermals als eine wahre Entdeckung dieser sensiblen Regisseurin. McKenzie spielt das Mädchen Tom zurückhaltend, mit großen Augen und hoher flüsternder Stimme. Sie schultert einen großen Teil der Handlung, denn Ben Foster ist so klug, der jungen Frau nicht die Show zu stehlen. Er legt seine Vaterfigur als in sich gekehrten Traumatisierten an, der seine Gefühle lieber für sich behält und auch sonst nicht viele Worte verliert. 

Die Beziehung der beiden gerät an ihre Grenzen, als Vater und Tochter entdeckt werden und von Sozialarbeitern zurück in die Gesellschaft integriert werden sollen. Will versucht, die ihm gegebene Arbeit bestmöglich zu erledigen. Doch sein Job auf einer Weihnachtsbaum-Farm triggert seine posttraumatische Störung. Wenn der Hubschrauber über das Wäldchen fliegt und Bündel von Bäumen abwirft, kauert Will vor Angst erstarrt zwischen den Tannen, unfähig sich noch zu bewegen. Tom hingegen findet schnell Anschluss, freundet sich mit einem Jungen in der neuen Nachbarschaft an, geht zu einem Treffen junger Kaninchenzüchter. Doch der Vater hält es nicht mehr lange unter Menschen aus und flieht mit der Tochter abermals in die Wälder. 

Was Granik als Regisseurin ausmacht, ist ihr kluger, mitfühlender Blick auf die Menschen, von denen sie erzählt. Will und Tom sind Außenseiter, die durch das grobmaschige Raster der amerikanischen Sozialbehörden gefallen sind – alles, was man Will gegen seine posttraumatische Störung gibt, sind Psychopharmaka, die er nicht anrührt, sondern weiterverkauft – und sie treffen auf ihrer Reise andere Aussteiger, die allesamt warm und menschlich sind. Da ist die Trailer-Park-Managerin, die die beiden kostenlos in einem Wohnwagen unterkommen lässt, als Will sich das Bein bricht. Da ist die Bienenzüchterin, die Tom in die Geheimnisse der Insekten einweiht. Da ist eine dreiminütige Sequenz, in der ein Duo zwischen den Wohnwagen und Waldhütten am Abend ein Gitarrenduett spielt. Die Welt, die Granik hier mit so viel Liebe für kleine Gesten zeigt, unterliegt zwar nicht mehr den bürgerlichen Normen, ist jedoch voller Herzlichkeit, Gemeinschaft und Fürsorge füreinander. 

Dies ist ein Thema, das sich durch das diesjährige Programm in Cannes zieht: die Auflösung der Familie als Nukleus und Norm der Gesellschaft und das Finden von Ersatzfamilien. In Angel Face verschwindet eine Mutter und ihre Tochter sucht sich einen Ersatzvater, in Ashgar Farhadis Everybody Knows offenbart ein langgehegtes Familiengeheimnis völlig neue Verwandtschaftsbande, in Hirokazu Kore-edas Shoplifters besteht eine Familie nur mehr aus Wahlverwandtschaften. Bei Granik wird es am Ende die Tochter sein, die sich in einem mutigen Akt von Emanzipation gegen ihren Vater stellen muss, weil sie weiß, dass sie für ihre Entwicklung eine andere Gemeinschaft braucht. 

Auch das ist etwas, das man in Graniks Filmen zuverlässig findet: kluge, starke Frauenfiguren, die selbstbestimmt ihren Weg gehen. Und der Blick dieser Regisseurin legt so viel Wärme und Menschlichkeit frei, dass man ihr gern bis in die unwegsamsten Winkel unserer Gesellschaft folgt.

Leave No Trace (2018)

Schin seit Jahren leben Will und seine 13 Jahre alte  Tochter unbemerkt von den Behörden in einem riesigen Naturschutzgebiet in der Nähe von Portland, Oregon. Als sie durch einen Zufall entdeckt werden, wird ihr Camp aufgelöst und sie beide in Obhut der Sozialbehörden genommen. Verzweifelt kämpfen sie darum, den Weg in die Wildnis wieder antreten zu können, die ihnen solange Heimat war. Doch etwas hat sich verändert in ihnen … 

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Meinungen

Anna · 13.09.2018

Sehr überzeugende Beschreibung, danke.

Edward · 29.07.2018

A very moving film, very well made and superbly acted.