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In seinem 2017 in Venedig ausgezeichneten Film „Nach dem Urteil“ schildert Xavier Legrand den Zerfall einer Familie und den Schrecken, den ein gewalttätiger Ehemann und Vater auslösen kann.

Nach dem Urteil (2017)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine Familie in Auflösung

Sie sind eine ganz normale Familie. Und ihnen widerfährt das, was eben auch ganz normalen Familien widerfahren kann: Die Eltern streiten sich, verstehen sich nicht mehr, es kommt zu Handgreiflichkeiten gegenüber der Frau und den Kindern. Und dann sieht man sich vor dem Familienrichter wieder.

Damit beginnt Xavier Legrands eindrückliches Regiedebüt Nach dem Urteil, für das der Regisseur beim Filmfestival in Venedig 2017 gleich 2 Preise einstreichen konnte. Bei einer Sitzung vor der Familienrichterin ringt Antoine Besson (Dénis Menochet) um das gemeinsame Sorgerecht für den 10-jährigen Julien (beeindruckend: Thomas Giora), die gemeinsame Tochter Joséphine (Mathilde Auneveux) ist bereits fast volljährig und kann deshalb über den Umgang mit dem gewalttätigen Vater selbst entscheiden. 

Obwohl es Bedenken gibt, weil Antoines Noch-Ehefrau Miriam (Léa Drucker) schildert, wie ihr Mann wiederholt gewalttätig gegen die Kinder und sie war, wird Antoine dennoch ein regelmäßiger Umgang mit seinem Sohn erlaubt. Doch bald schon zeigt sich, wie sehr der in seinem Stolz verletzte Vater das Kind manipuliert, aushorcht, einschüchtert und bedroht, um seine Ziele durchzusetzen. Das eskaliert schließlich eines Nachts, als Antoine versucht, mit Gewalt in die Wohnung Miriams einzudringen. Dass er dabei eine großkalibrige Waffe mit sich führt, macht die Angelegenheit noch viel gefährlicher …

Ganz behutsam und nüchtern entwickelt Xavier Legrand seine Geschichte, die vor allem auf Julien fokussiert und dessen Zerrissenheit und Hilflosigkeit thematisiert. Dank der herausragenden darstellerischen Leistung von Thomas Gioara wird dessen Innenwelt geradezu körperlich erfahrbar. Aber auch Léa Drucker und Dénis Menochet füllen ihre Rollen mit Bravour aus und schaffen es, immer wieder im Zuschauer Unsicherheiten zu wecken, ob vielleicht nicht alles doch ein wenig anders ist, als es sich nach außen darstellt. Warum spielt Miriam dieses Versteckspiel und suggeriert Antoine, sie würde noch bei ihren Eltern wohnen, während sie doch eine eigene Wohnung hat? Wer ist der Mann, der plötzlich an ihrer Seite zu sehen ist? Benutzt sie nicht vielleicht doch die Kinder, um sich für die bevorstehende Scheidung in eine bessere Position zu bringen? All dies sind Ungewissheiten, mit denen sich Frauen in einer ähnlichen Lage immer wieder konfrontiert sehen, und Legrand pflanzt diese Zweifel auch in die Köpfe der Zuschauer_innen. 

Auch wenn sich der Film am Ende immer mehr zuspitzt und mit einem furiosen Finale aufwartet, bei dem es buchstäblich um Sekunden geht, hat man kaum den Eindruck, dass Legrand hier mit dramaturgischen Mitteln der Spannungserzeugung den Zuschauer bei der Stange hält. Und vielleicht liegt ja hierin das Geheimnis der Wirkmächtigkeit dieses Familiendramas: der Film vermittelt glaubwürdig, dass solche Eskalationen immer wieder passieren, Tag für Tag, Nacht für Nacht – ob in Frankreich oder Deutschland. Es ist eine leider ganz normale Geschichte.

Nach dem Urteil (2017)

Die Geschichte einer zerbrochenen Ehe, in deren Sorgerechtsstreit ein Junge im Zentrum steht und leidet. Der Film läuft in Toronto und Venedig 2017.

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