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Auch in ihrem neuesten Film „Im letzten Sommer“ ist sich Catherine Breillat mit dem Erzeugen von Spannung durch kontroverse Themen treu geblieben.

Im letzten Sommer (2023)

Eine Filmkritik von Bianca Jasmina Rauch

Das Drängen in die Abwärtsspirale

Mit ihrem Image als Tabubrecherin erregte die französische Filmemacherin Catherine Breillat bereits ab Mitte der 1970er Jahre immer wieder Aufmerksamkeit. Kontroverse Diskussionen um die Darstellung von Sexualität und Gewalt begleiteten Filme wie „Ein wirklich junges Mädchen“, „Meine Schwester“ oder „Romance“ (die im deutschsprachigen Raum erst eine weit verspätete Rezeption erfuhren). Nun widmet sich die 75-jährige einstmalige Provokateurin, zehn Jahre nach ihrer letzten Inszenierung, erneut einer Geschichte, die um die Themen sexuelles Erwachen, moralische Grenzüberschreitungen und Machtmissbrauch kreist: Die gutbürgerlich verheiratete Anwältin Anne (Léa Drucker) lässt sich auf eine Affäre mit ihrem impulsiven 17-jährigen Stiefsohn Théo (Samuel Kircher) ein.

Breillat eröffnet ihren Film mit einer Konversation, die durch ihre Spannung und Ambivalenz einen Schatten auf die folgenden Ereignisse vorauswirft: Anne spricht mit einer Klientin, die zum Opfer eines Übergriffs wurde. Die abwechselnden Close-ups stellen das aufgelöste Beben der Teenagerin und die strenge Fassung Annes einander gegenüber. Mit wie vielen Männern sie bereits Sex gehabt hätte, fragt die Protagonistin – eine Information, die relevant für die Verteidigung des Falls sei. Eine Frage, die in einer späteren Szene Théo Anne in lockerer Bar-Atmosphäre stellt. Wie viele? Wer der erste war, bohrt er nach.

Ein sensibles Thema. Promiskuität bei Frauen ist überhaupt ein Thema, das scheinbar nie langweilig wird, besonders wenn sexuelle Handlungen be- und verurteilt werden. Ebenso verweist die Wertung sexueller Aktivität auf einen Moralkodex, an dem sich nicht nur unsere Gesellschaft orientiert, sondern von dem auch die gut situierte Adoptivmutter aus der Pariser Vorstadt umgeben ist. Erst durch den stürmischen, neugierigen Stiefsohn gerät ihr Privatleben ins Wanken. Théo, das wird sofort nach seinem Einzug in das Haus des Paares und ihrer kleinen Töchter deutlich, zieht gerne Aufmerksamkeit auf sich – sei es auch nur durch das ständige Posieren mit nacktem Oberkörper.

Zuerst noch in einem Distanzverhältnis verweilend, freunden sich Anne und ihr Stiefsohn mit einem häufig neckischen Hin und Her bald mehr und mehr an – bis in einem Moment der physischen Nähe und nach einem intensiven Blick Théos ihre Münder förmlich miteinander verschmelzen. Die Abwärtsspirale: unaufhaltsam.

Diese lange, sehr nahe Aufnahme des ersten Kusses könnte kaum mehr um Aufmerksamkeit buhlen. Fast verformt sie sich zu einer abstrakten Abbildung. Immer wieder wird die Kamera (Jeanne Lapoirie) im Laufe des Films durch detaillierte Einstellungen eine Nähe zum körperlichen Empfinden von Anne und Theó herzustellen versuchen und dabei besonders auf ihren Gesichtern verharren. Nach dem ersten Mal äußert Anne zunächst klar und deutlich, dass es keine Wiederholung geben soll – diese Affäre würde ohne Zweifel ihr Eheleben mit Pierre gefährden.

Doch Théo will mehr und weiß Anne trotz ihres deutlichen, wiederholten „Nein“ zu überreden, ihr so lange seinen Mund auf ihren zu drücken, bis sie ihren Widerstand aufgibt. Ist es Leidenschaft oder eine Grenzüberschreitung? Hat Annes gutbürgerliche, moralisch integre Fassade sich insgeheim nach einem Drängen Théos gesehnt, um unter der folgenschweren Passion einzustürzen? Wie glaubwürdig stützt Annes Performance von moralischer Unversehrtheit das gesellschaftlich anerkannte, aber so fragile Konstrukt namens monogames Eheleben? Indem wir über das zunächst fehlende Einverständnis der Situation und das Familienverhältnis der beiden reflektieren, gelingt es Breillat uns in eine unbequeme Position zu versetzen. Anne lässt sie dabei aber in keine Opferrolle fallen, im Gegenteil: Sie wird ihre Machtposition als Vertraute von Pierre noch ausnutzen.

Im letzten Sommer gelingt es indirekt Fragen nach den Prioritäten von Emotion und Vernunft zu stellen, nach Ehrlichkeit, Idealen und Lüge. Im weiteren Verlauf der Erzählung spitzt sich die Situation zu: Breillat geht es weniger um das Spiel mit der Geheimhaltung, als um die Reaktion der Figuren, wenn sie mit Tatsachen konfrontiert werden und ihre unterschiedlichen Vorstellungen aufeinanderprallen. Dabei positioniert sich die Geschichte nicht eindeutig auf einer Seite, bleibt aber meist näher an Anne.

Man kann sich durchaus fragen, auf welches Nähe-Distanz-Verhältnis zum Publikum die Filmemacherin aus ist, denn Anne wirkt als Figur oft nicht greifbar. Ihr Erleben von Leidenschaft gerät im Schatten von Théos Drängen in Gefahr, zum stereotypen Abbild einer Darstellung von Leidenschaft zu werden, statt tatsächlich von ihrem eigenen Begehren zu erzählen. Überdeutlich stellt der Film dafür alles heraus, was gegen Annes Empfänglichkeit für die Affäre mit einem viel jüngeren Mann spricht.

In einer (unmotivierten Sex-)Szene mit Pierre erzählt sie etwa, bereits als Teenagerin auf Ältere gestanden zu haben – umso „überraschender“ also, dass es durch das Drängen Théos anders kommt. Auch an Überdeutlichkeit fehlt es in der Darstellung des bourgeoisen Lebensstils von Anne nicht: der Reitunterricht der Mädchen, das ständige Tragen von Stöckelschuhen, der Cartier-Armreif als Weihnachtsgeschenk oder das pausenlose Weintrinken, das erst durch das Biertrinken mit Théo Unterbrechungen erfährt. Wein und Bier, Alt und Jung, unmotivierter Sex und stürmischer Sex, Lüge und Ehrlichkeit – Annes bisherige Welt steht also deutlich Kopf. Wo kann die bisherige Ordnung darin noch Platz finden? Oder umgekehrt: wie passt das neue Chaos in ihr situiertes Leben als Anwältin, die tagtäglich mit Übergriffen konfrontiert ist?

Breillats unter Mithilfe von Pascal Bonitzer erarbeitetes Drehbuch basiert auf dem dänischen Film Königin aus dem Jahr 2019. Darin allerdings geht die Initiative, abgesehen von vielen Gemeinsamkeiten der Geschichte, für die sexuellen Handlungen mit ihrem Stiefsohn von Anne selbst aus. Das dürfte dem weiteren Verlauf des Films eher an Schärfe zusetzen als es in Breillats Remake der Fall ist.

Die Idee für eine Neuverfilmung trug übrigens Produzent Saïd Ben Saïd an die legendäre Regisseurin heran und holte sie so aus ihrer Schaffenspause. Eine Inszenierung im Stil des New French Extremism (eine Bezeichnung, die sich auf Filme der späten 1990er und 2000er aus der Hand von Breillat, Gaspar Noé, Olivier Assayas oder Virginie Depentes und Coralie Trinh-Thi bezieht) erwartet uns mit Im letzten Sommer nicht, definitiv aber eine Geschichte, die zum Diskutieren anregt – darin ist sich Breillat treu geblieben.

Im letzten Sommer (2023)

Anne ist eine brillante Anwältin, die sich um minderjährige Missbrauchsopfer und Jugendliche in Schwierigkeiten kümmert. Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Pierre und den beiden adoptierten Töchtern führt sie ein harmonisches Familienleben in einer Villa am Rand von Paris. Doch als Théo, Pierres 17-jähriger Sohn aus einer früheren Ehe, bei ihnen einzieht, gerät das Idyll schnell ins Wanken. Denn Anne und der rebellische Teenager fühlen sich zueinander hingezogen – obwohl sie wissen, dass es nicht sein darf. Schon nach kurzer Zeit entspinnt sich eine leidenschaftliche Affäre, die nicht nur ihre Familie, sondern auch ihre Karriere fundamental gefährdet…

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