Jesus Henry Christ

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Eine kleine Freak-Show

Henry James Herman ist ein Freak – und „etwas ganz Besonderes“, wie ihm seine Mutter Patricia erklärt und ihn damit glauben macht, dass dies auch die Definition von Freak sei. Henry merkt sich alles beziehungsweise er kann nichts vergessen. In den meisten Fällen ist dies auch ganz nützlich, aber manchmal eben auch sehr unangenehm. Jesus Henry Christ erzählt aus dem Leben eines zehnjährigen Wunderkindes, davon, wie dieses die Welt sieht, und von der großen Frage seines Lebens: Wer ist mein Vater? Und dann wird die Geschichte noch ein bisschen verrückter, als sie ohnehin schon ist.
Eigentlich beginnt die Geschichte von Jesus Henry Christ nicht mit Henry (Jason Spevack), sondern mit seiner Mutter Patricia (Toni Collette), die – ebenfalls im zarten Alter von zehn Jahren – dabei zusehen musste, wie ihre Familie von Tag zu Tag kleiner wurde: Erst verbrannte die Mutter beim Anzünden von Patricias Geburtstagstorte, dann starben ihre drei Brüder unterschiedliche Tode. Zuletzt machte sich ihr großer Bruder Billy klammheimlich aus dem Staub, um vordergründig nicht nach Vietnam gehen zu müssen, aber wohl auch deswegen, um sich nicht um den nun verwitweten Vater (Frank Moore) kümmern zu müssen. Letzteres oblag sodann Patricia.

Ein Schnitt überspringt viele Jahre und zeigt, wie Patricia als junge Frau im Kreißsaal liegt und Henry zur Welt bringt. Der frisch gebackene Großvater ist begeistert, bringt seine Tochter aber bald richtiggehend in Rage, als er seinen Kartenspielfreunden von den Fähigkeiten des mittlerweile neunmonatigen Jungen erzählt. Das Baby spricht nämlich in kompletten Sätzen, was nicht nur die Boulevardpresse, sondern natürlich auch Wissenschaft und Forschung interessiert. Aufgrund seiner Plauderei wird Großvater Stan im Altenheim angemeldet und Henry wächst bei Patricia auf.

In allen Bildungseinrichtungen fliegt Henry irgendwann heraus: Aus dem Kindergarten, weil er Fragen nach dem Sinn der Lerninhalte stellt; aus der katholischen Schule, weil er nach der „Natur der Wahrheit“ und dem „Sinn des Lebens“ sucht und den Osterhasen, die Zahnfee, den Weihnachtsmann und Gott nebeneinander und in Frage stellt. Überhaupt hat Henry viele – und für einige seiner Mitmenschen zu viele – Fragen. Die wichtigste Frage jedoch, die den zehnjährigen Jungen umtreibt, ist die nach seinem Vater. Aber seine Mutter kann ihm darauf nicht so recht Antwort geben, denn Henry ist Produkt einer Befruchtung im Reagenzglas, und nicht einmal Patricia kennt den Samenspender. Da sucht Henry Rat bei Großvater Stan und erfährt von ihm, dass er eine Halbschwester hat. Diese sucht er auf und entdeckt, dass Audrey (Samantha Weinstein) ihm in Sachen Freak leicht das Wasser reichen kann.

Weil Audreys Vater Slavkin (Michael Sheen) sie geschlechtsneutral erzogen und ein Buch darüber geschrieben hat, wird sie allerorts als Lesbe beschimpft. Dennoch mag sie ihre Außenseiterstellung irgendwie – ihr Motto: „So ein Freak sein, ist doch cool, besser als so ein Schwachkopf wie die anderen Blödis“. Henry lernt zuerst Slavkin O’Hara kennen und verbrennt mit ihm die Bücher über Audreys Erziehungsmodell, dann macht er die Bekanntschaft von Audrey und ihrer Welt und geht zusammen mit ihr in die Kinderwunschklinik, in der sie beide gezeugt wurden, um einen Vaterschaftstest zu machen und herauszufinden, ob Slavkin tatsächlich ihr gemeinsamer Vater ist.

Der Film von Dennis Lee ist eine kleine Freak-Show. Wie in der Kult-Serie Six Feet Under scheint auch in Jesus Henry Christ jede Figur ein klein wenig und auf ihre Weise verrückt zu sein, allerdings verrückt aufgrund der Umstände und skurrilen Zufälle, die ihnen das Leben so zugespielt hat. Diese sind freilich und reichlich übertrieben, aber auch originell und deshalb immer wieder überraschend, und sie machen den Anschein, als wollte sich der Autor fiktional austoben und ein Netz wundersamer Kuriositäten spinnen. Hierzu passt auch die Art und Weise des Erzählens mit Henry als Voice Over-Erzähler, die unkonventionellen Kameraeinstellungen und insbesondere die kontrastreiche Farbgestaltung. Die Komödie macht vor allem deshalb Spaß, weil sie – in Geschichte und Gestaltung – so ungewöhnlich ist.

Ob Jesus Henry Christ auch über sein Spiel mit Plot und Form Großes zu sagen hat? Der Film ist zumindest voll gespickt mit Kommentaren zu den Lebensformen unserer Zeit, zu Treue und Liebe, zu Gott und zum Glauben, zum Elternsein und zur Neugier der Wissenschaft. Letztendlich liefert er doch zu viele Themen und für jedes einzelne zu wenige Informationen, als dass man hier eine klare Positionierung herausfiltern könne. Vermutlich ist das aber auch einfach nicht das Anliegen des Films. Jesus Henry Christ will gerade eine Freak-Show sein, Skurriles miteinander verknüpfen und auf außergewöhnliche Weise in Szene setzen. Das ist ihm gelungen, mehr aber auch nicht.

Jesus Henry Christ

Henry James Herman ist ein Freak – und „etwas ganz Besonderes“, wie ihm seine Mutter Patricia erklärt und ihn damit glauben macht, dass dies auch die Definition von Freak sei. Henry merkt sich alles beziehungsweise er kann nichts vergessen. In den meisten Fällen ist dies auch ganz nützlich, aber manchmal eben auch sehr unangenehm. „Jesus Henry Christ“ erzählt aus dem Leben eines zehnjährigen Wunderkindes, davon, wie dieses die Welt sieht, und von der großen Frage seines Lebens: Wer ist mein Vater?
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