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In einem Dorf im Norden Ostdeutschlands sehnen sich im zweiten Jahr nach der Wiedervereinigung viele junge Leute nur fort nach Berlin. Als zwei minderjährige Schwestern verschwinden, scheint das außer den beiden Kommissaren deswegen kaum jemanden zu kümmern. Nach und nach eröffnen sich den Ermittlern allerdings die grausamsten Geheimnisse.

Freies Land (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ermittlungen in schweigsamen Zeiten

Zwei jugendliche Schwestern sind aus einem Dorf im Nordosten Deutschlands verschwunden. Es ist das Jahr 1992 und die beiden Kommissare, die zur Ermittlung hierher aufs flache, küstennahe Land beordert wurden, bekommen rasch den Eindruck, auf verlorenem Posten zu stehen. Die Mädchen werden halt weggegangen sein, sagt man ihnen, so wie viele junge Leute.

Die DDR ist tot, aber die neue Zeit mit ihrer Aufbruchstimmung scheint den in der winterlichen Kälte erstarrten Landstrich irgendwie links liegengelassen zu haben. Die polizeilichen Ermittlungen dringen tiefer ins Gebiet des kollektiven Schweigens vor, das nicht nur einen Kriminalfall, sondern auch die Verstörung am Scheideweg zweier Epochen überdeckt. Die Idee, einen deutschen Thriller in dieser gottverlassenen Gegend in der Nachwendezeit anzusiedeln, klingt genial. Der Regisseur Christian Alvart (Banklady, Netflix-Serie Dogs of Berlin) beweist erneut, dass er ein Meister des Genres ist, welches in Deutschland ein Schattendasein führt. Das Drehbuch von Alvart und Siegfried Kamml basiert auf dem spanischen Thriller La isla mínima – Mörderland von 2014. Dort diente ein Kriminalfall als Aufhänger für eine filmische Auseinandersetzung mit den Nachwehen der Franco-Ära am Beginn der 1980er Jahre.

Kommissar Patrick Stein (Trystan Pütter) lebt in Hamburg, arbeitet aber neuerdings in Rostock. Von dort wurde er in das Dorf beordert, um gemeinsam mit dem Kommissar Markus Bach (Felix Kramer) den Fall der vermissten Schwestern aufzuklären. Steins Frau erwartet in Kürze das erste Kind und er ist alles andere als erfreut, so fern von ihr festzuhängen, im örtlichen Hotel Fortschritt, das mit seinem DDR-Chic den Namen Lügen straft. In der Telefonzelle, in der noch das Schild „Fasse dich kurz“ an den herben Tonfall des sozialistischen Regimes erinnert, hält er den Kontakt mit daheim dürftig aufrecht.

Kommissar Markus Bach stammt aus Ostdeutschland. Er ist schwer gebaut, nimmt Tabletten, scheint ein Genussmensch zu sein. Im Gegensatz zu Stein spricht er den bei Besuchen angebotenen Speisen und Getränken zu – von etwas muss das Gemüt ja leben. Diese gegensätzlichen Charaktere reden nicht viel miteinander, es fehlt die gemeinsame Wellenlänge. Und das Schweigen ringsum verschlägt ihnen ebenfalls die Sprache, dieses Schweigen, das sie als Fremde, die nichts verstehen, vielleicht auch nicht verstehen sollen, ausstößt. Der Vater (Marius Marx) der verschwundenen Schwestern ist ein jähzorniger Fährmann, seine Frau Katharina (Nora Waldstätten) traut sich in seiner Gegenwart kaum, mit den Ermittlern zu kooperieren. Die Mitschüler*innen schweigen, und wenn sich die Kommissare in der Gegend orientieren wollen, benötigen sie die Mithilfe von Richy (Ben Hartmann), einem Wilderer und Außenseiter, auf dessen Ortskenntnisse zumindest Verlass ist.

Wenn man Stein und Bach auf einer Flussfähre zu einem Fischkutter fahren sieht, auf dem eine Hellseherin etwas mitzuteilen hat, dann wird ihre eigene, fast schon verzweifelte Ratlosigkeit spürbar. Diese traurigen Helden scheinen einem Film noir entsprungen zu sein. Die Leichen der misshandelten Mädchen werden im Wasser gefunden und die Ermittler erfahren nach und nach, dass es weitere ungeklärte Fälle aus den Vorjahren gibt.

Wiederholt wecken die weite Landschaft und die bedrückende Atmosphäre mit ihren grausamen Geheimnissen Erinnerungen an Thriller, die in den amerikanischen Südstaaten spielen, wie etwa In der Hitze der Nacht oder In the Electric Mist – Mord in Louisiana. Das wasserreiche flache Land in Ostdeutschland besitzt bei Alvart, der in seinem Thriller auch die Kamera führte, trotz der winterlichen Schneereste Ähnlichkeit mit dem Süden der USA. Und der klagende, wortlose Männergesang der Filmmusik verweist ebenfalls dorthin.

Aber damit nicht genug, Alvart arbeitet eigenen Worten zufolge auch mit „mystischer Überhöhung“, die dort entsteht, wo die Einsamkeit und Orientierungslosigkeit eines Suchenden sozusagen seinen sechsten Sinn öffnet. Die äußere oder auch die innere Wahrheit, die nicht ausgesprochen wird, schreit einem dennoch förmlich entgegen, äußert sich in Zeichen. Bach sieht des Öfteren einen Raben, sogar in seinem Zimmer. Bachs raunende Stimme gibt dem Thriller eine besondere Würze. Der Charakter funktioniert als charismatischer Sympathieträger, mit seiner Emotionalität und sogar seiner Cholerik.

In einem deutschen Krimi gibt es in der Regel ja keine Ermittler, die bei Verhören Gewalt einsetzen, aber hier, in diesem Niemandsland, wo das Gesetz traditionell keinen guten Ruf hat, darf einer wie Bach noch über die Stränge schlagen, ohne dass der ganze Film unglaubwürdig wird. Stein fremdelt mit diesen Methoden, die jedoch effektiv sind und überdies den Thriller mit Schwung und etwas grimmigem Witz versorgen. Und er fremdelt erst recht, als er erfährt, was Bach 1978 als Stasi-Mann in Bautzen getan haben soll.

Alvart bewies mit Banklady, dass ein Serienbankraub-Krimi – noch dazu einer, der sich so ähnlich wirklich ereignete — nicht nur in Chicago, sondern auch in Hamburg funktioniert. Man muss sich als Filmemacher nur trauen, den eigenen Blick nicht von den herrschenden Seh- und Interpretationsgewohnheiten verstellen zu lassen, um der Wirklichkeit neue Aspekte abzugewinnen. Hier steht nun der biedere, korrekte und unscheinbare Stein, und mit ihm das Publikum, vor der Frage, ob Bach ein guter Kerl und Kumpel oder ein Stasi-Täter ist, an dessen Händen Blut klebt. Beides könnte er wohl ja nicht sein.

Die intensive Atmosphäre dieses Films ist nicht zuletzt der hervorragenden Kameraarbeit Alvarts geschuldet. Die Aufnahmen schnurgerader Straßen aus der Vogelperspektive, die Kläranlage mit den Becken, über denen Dampf in der Winterluft schwebt, Schauplätze wie ein Schiffsfriedhof, eine ehemalige VEB-Fabrik mit Arbeitern, die gegen Lohnkürzungen des neuen Eigners demonstrieren, deklinieren Verlorenheit durch. Die Farbpalette wirkt entsättigt und bevorzugt Braun- und Grautöne, das Licht ist diffus, gedämpft. Dieser Genrefilm nimmt einen emotional gefangen, indem er die seelische Brachlandschaft nach dem historisch-gesellschaftlichen Umbruch im Osten Deutschlands gekonnt mit fiktional-fabulierender Geste in Schwingung versetzt.

Freies Land (2019)

Ostdeutschland im Sommer 1992. Die beiden Mordermittler Patrick und Markus werden an die Oder geschickt, um dort das spurlose Verschwinden von zwei Schwestern aufzuklären. Aber die abgelegenen Winkel im Osten Deutschlands gehorchen ihren eigenen Regeln. Die Kommissare beginnen in der verschworenen Gemeinschaft den unübersichtlichen Sumpf aus Lügen und Verbrechen auszutrocknen. Langsam kommen sie den Tätern auf die Spur, aber geraten dabei selbst in große Gefahr…

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Meinungen

Thomas · 26.07.2020

Ein Film der in dem was er erzählen will recht gut funktioniert und einen belebenderen Eindruck hinterlässt, als so mancher Fernsehfilm. Insbesondere die Kameraarbeit hat gut gefallen. Auch die Lokationen waren stimmungsvoll, aber eben nicht ostdeutsch. Gut möglich, dass das für eigentlichen Zielgruppe des Films ohne Belang ist...

Es hätte dem Film dennoch gut getan, wenn man jemanden zum Athentizitätscheck hinzugezogen hätte. Dann wäre es leichter gewesen sich auf die erzählte Geschichte einzulassen. Drei Beispiele: 1. Ein Polizei-Trabbi. Wenn es wirklich welche gegeben haben sollte, waren es Exoten. Das Auftauchen im Film hatte eher etwas groteskes und störte die Stimmung. 2. VEB gab es 1992 nicht mehr. Die waren alle umfirmiert, unterstanden der Treuhand oder waren bereits verkauft. 3. Stasi-Polizist. Die geschilderte Konstellation gab es 1992 nicht. Alle Beamten wurden auf Stasi-Vergangenheit durchleuchtet. Wenn ein Journalist Beweise für die Stasivergangenheit eines Beamten hatte, brauchte es nur eines Zeitungsartikels und der Mann flog aus dem Dienst. Das ist hundert- oder tausendfach passiert. Die Zeiten waren rigoros, sowas wurde nicht geduldet.

Aber genug der Kritik. Der Film wurde dem Bekanntenkreis zum Anschauen weiterempfohlen.

Martin Betzwieser · 22.01.2020

Der deutsche Genreregisseur Christian Alvart war am 14. Januar im Frankfurter Filmmuseum und stellte seinen Film „FREIES LAND“ vor. Ein Bericht und eine Kritik.

„FREIES LAND“ ist eine Neuverfilmung des spanischen Ausnahmethrillers „MÖRDERLAND – LA ISLA MINIMA“, in dem zwei unterschiedliche Polizisten aus der Großstadt zwei verschwundene Mädchen an der Küste suchen sollen. Der Vermisstenfall entwickelt sich zum Mordfall, als die Leichen der beiden Mädchen gefunden werden, und zum Serienmordfall, als es Indizien zu weiteren Verschwundenen und mutmaßlichen Mordopfern gibt. Als besonderes Spannungselement entwickelte Regisseur Alfredo Rodriguez die unsichere politische Stimmung 1980, wenige Jahre nach der Franco-Diktatur. Die Gegend und die Menschen sind arm. Arbeiter in der Landwirtschaft und in einer der wenigen Fabriken wehren sich gegen Ausbeutung.

Der deutsche Regisseur Christian Alvart, der nach zwei Hollywoodfilmen auch Auftragsarbeiten mit Til Schweiger als TATORT-Kommissar über sich ergehen lassen musste, verfilmt nach „STEIG. NICHT. AUS.“, einer eingedeutschten Version von „ANRUFER UNBEKANNT“ („EL DESCONOCIDO“) zum zweiten mal einen spanischen Erfolgsfilm. In „FREIES LAND“ verlegt er die Geschichte vom schwülen Spätsommer in Spanien in den eiskalten Winter der mecklenburg-vorpommerschen Provinz und lässt sie wenige Jahre nach der deutschen Einigung spielen. Hier kommen die Frustration und die wirtschaftliche Verunsicherung der Nachwendezeit sehr gut zur Geltung. Alte Staatssicherheitsbedienstete spielen noch wichtige Rollen. Die einzige Fabrik in der Gegend wurde von einem westdeutschen Investor übernommen, der seinen Gewinn maximieren und den Arbeitern Lohnkürzungen zumuten will.

Christian Alvart übernimmt zahlreiche Szenen und Handlungsabläufe fast identisch, was bereits beim Vorspann mit der sehr hohen Vogelperspektive der Landschaft anfängt, die im spanischen Original wir Querschnitte durch Gehirnwindungen oder Mikroskopaufnahmen von Pflanzenblättern aussehen. Auch Christian Alvart zeigt bei zahlreichen Gelegenheiten die Aufnahmen aus hoher Vogelperspektive. Er hat ein sehr gutes Gespür für Stimmungen, Architektur und Landschaften, das er sehr gut nutzt, und er macht sehr viel richtig. Alvart war auch der Chefkameramann und erzeugte bei seiner grau-braunen Optik eine durchgehende Stimmung der Verwahrlosung und des Verfalls; er wollte, dass alles rostig aussieht. An einigen Stellen im Film denke ich, dass er auch sehr gut in schwarz-weiß funktioniert hätte. Darauf spreche ich Christian Alvart an und er antwortet, dass er den Film nicht in schwarz-weiß dachte sondern in grau-braun-verrosteten Farben, was überzeugend klingt; er weiß, was er will.

Gedreht wurde aus logistischen und finanziellen Gründen in der Ukraine und hier ausschließlich in dekorierten Originalkulissen. In den ostdeutschen Gegenden sind nicht mehr durchgehend die Landschaften vorhanden, die es 1992 gab; diese Landschaften sind laut Alvart jetzt so in der Ukraine zu finden. Dort kosteten die Dreharbeiten auch nur knapp über 2 Millionen Euro und dafür sieht der Film wirklich sehr gut aus.

Als Minuspunkte muss ich die teilweise sehr nervige Filmmusik mit raunenden Männergesängen sowie eine Sexszene zwischen Polizist Patrick Stein und der Mutter der beiden Mordopfer aufführen, die sehr unglaubwürdig und überflüssig ist; in LA ISLA MINIMA gab es diese Erotikszene aus gutem Grund nicht.

Der Film ist insgesamt überraschend gut, sehenswert und überzeugend, reicht aber nicht an das spanische Meisterwerk heran.

„FREIES LAND“ hatte einen schweren Start. In der Startwoche ab 9. Januar lief er bundesweit nur in 13 Kinos, in Frankfurt gar nicht. In der zweiten Startwoche läuft er nach Kino-Zeit.de in tatsächlich 30 Kinos bundesweit; in Frankfurt zeigt ihn ein seit vorigem Donnerstag ein Programmkino mit ca. 80 Plätzen eine Woche lang. Da hätte der insgesamt gelungene Film mehr verdient.

Wolfgang · 09.01.2020

Der Film scheint mir gut und anschaulich beschrieben, will ihn mir ansehen.

Nur ist "Fasse Dich kurz!" (und generell barscher staatlicher Ton!) beileibe keine DDR-Erfindung, sondern stand bis zur Gründung der Telekom 1995 auch in vielen gelben Telefonhäuschen Westdeutschlands. Der staatliche Ton hat sich z.T. nach 1968 gelockert ...