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Emily Atefs neuer Film erzählt von einer heimlichen Liebe in der Nachwendezeit und schafft es, den zeitpolitischen Hintergrund wie die Leidenschaft eines ungleichen Paares überzeugend und sinnlich auf die Leinwand zu bannen

Irgendwann werden wir uns alles erzählen (2023)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine sommerliche Amour fou

Thüringen im Jahr 1990, kurz nach der Wiedervereinigung: Die 19 Jahre alte Maria (sensationell: Marlene Burow) lebt auf dem Anwesen der Familie ihres Freundes Johannes und soll eigentlich ihr Abitur machen, doch viel lieber schwänzt sie die Schule, versinkt in Romanen, hängt Tagträumen nach und lässt sich durch den Sommer treiben. Während ihr Freud Johannes (Cedric Eich) voller jugendlichem Enthusiasmus die, durch die politischen Veränderungen entstehenden, neuen Freiheiten begeistert annimmt und Zukunftspläne schmiedet, die ihn vom Land in die Stadt versetzen werden, ist Maria gehemmt und wie gelähmt von der Situation und unfähig, ihr Leben in die Hand zu nehmen. Und es ist erst eine zufällige Begegnung, ein kurzer Moment, der sie aus ihrer Lethargie reißen wird.

Als sie vor Schock wie gelähmt vor dem benachbarten Landwirt Henner (Felix Kramer) steht, dessen Hunde sie gerade beinahe angefallen hätten, springt ein Funke über, der die beiden in eine leidenschaftliche heimliche Affäre miteinander treibt. Es ist so, als hätten sich zwei verlorene Seelen getroffen, die sich wie Ertrinkende an ihrer Liebe und Leidenschaft festhalten. Immer wieder droht das Verhältnis aufzufliegen, ein ums andere Mal steht Maria vor der Entscheidung, sich zu ihrer Liebe zu bekennen – doch jedes Mal schweigt sie oder jemand anderes, der sie aus diesem Dilemma erlösen könnte. Und so spitzt sich die Situation immer mehr zu, wird immer auswegloser, bis sich alles so sehr verdichtet, dass es zu einer Explosion kommen muss.

In ihren Grundzügen erinnert der auf Daniela Kriens gleichnamigem Roman basierende Irgendwann werden wir uns alles erzählen an den ebenfalls sehr gelungenen Niemand ist bei den Kälbern von Sabrina Sarebi. Hier wie dort lebt eine junge Frau auf dem Land nicht bei ihrer Familie, sondern auf dem Anwesen ihres Freundes. Hier wie dort stammt sie aus zerrütteten familiären Verhältnissen und hat sich eine Ersatzfamilie gesucht, die sich aber in beiden Fällen als Sackgasse erweist. Und hier wie dort versucht sie der provinziellen Ödnis durch eine leidenschaftliche Affäre zu entkommen, bevor sie dafür bereit ist, ihrem Leben eine grundlegende Wendung zu geben. Ein zentraler Unterschied ist aber die andere zeitliche Verortung, die zugleich eines zeigt: Wie wenig sich in den Jahren seit der Wiedervereinigung insbesondere in den ländlichen Gebieten Ostdeutschlands verändert hat.

Bei allen Ähnlichkeiten aber ist Irgendwann werden wir uns alles erzählen auch in anderer Hinsicht ein ganz anderer Film geworden: Zunächst und vor allem ist er ein Film über weibliches Begehren, über die subversive Kraft, die der Liebe und der Leidenschaft (zumal der heimlichen und nicht akzeptierten) innewohnt. Darüber hinaus zeichnet der Film ein stimmiges Bild jener Zeit unmittelbar nach der Wiedervereinigung, an die Hoffnungen, Ängste und ersten Enttäuschungen, die damit einhergehen, an die Euphorie mancher, das Ringen um Perspektive(n) anderer und das Resignieren weniger.

All dies kleidet Emily Atef in traumschöne Bilder (Kamera: Armin Dierolf) voller flirrender Sinnlichkeit, die das Publikum förmlich in den Film und in diesen Sommer des Jahres 1990 hineinziehen und die bisweilen an Terrence Malicks Frühwerk Days of Heaven / In der Glut des Südens erinnern. Einen wichtigen Anteil an dieser erzeugten Sogwirkung trägt dabei auch die Tonebene, die sensibel jedes Naturgeräusch genauestens registriert und hörbar macht. Im Gegensatz zu dieser Geräuschkulisse stehen das Schweigen und Dialogsätze, die immer wieder und durchaus passend zum Titel Aussprachen lediglich andeuten, dann aber nie stattfinden lassen. Die Wortlosigkeit, die sich immer wieder in Ankündigungen äußert, erzeugt hier freilich keine Leere, sondern vielmehr einen permanenten Spannungszustand, der locker über die 129 Minuten hinweg trägt und kaum je Längen oder Redundanzen hervorbringt.

Dank eines herausragenden Ensembles, eines exzellenten Drehbuchs, sensibler Regie- und Kameraarbeit ist Emily Atef mit ihrem neuen Film ein eindrückliches Werk gelungen, das nicht nur überzeugt, sondern zutiefst beeindruckt.

Irgendwann werden wir uns alles erzählen (2023)

Die Mauer ist bereits gefallen, die Wiedervereinigung steht noch bevor; der Sommer 1990 in der DDR ist der letzte in einem untergehenden Land. Maria wird bald siebzehn. Gemeinsam mit ihrem Freund Johannes wohnt sie auf dem Hof seiner Eltern, dem Brendel-Hof, nahe der deutsch-deutschen Grenze. Sie ist ein zartes, verträumtes Mädchen, das sich lieber mit einem Buch verkriecht, als in die Schule zu gehen. Zwar beteiligt sie sich an der Hofarbeit, aber ihr größtes Interesse gilt dem Lesen. Der Brendel-Hof ist neben dem Henner-Hof der größte des Ortes. Beim Henner ist alles noch wie vor dem Krieg, der eigenbrötlerische Mann lebt dort alleine. Sein einsames Leben und seine harsche Art erregen Argwohn im Dorf, und sein eigenwilliges Charisma, das auf Frauen attraktiv wirkt, macht es nicht einfacher. Maria begegnet Henner eines Tages zufällig, eine einzige Berührung reicht aus, um eine unausweichliche Liebesbeziehung zu beginnen. Wie von höherer Gewalt geleitet, treibt es sie in sein Haus und seine Arme. Einen Sommer lang dauert diese Liebe, die aus dem Mädchen eine Frau macht. Mehr und mehr verstrickt sich Maria in ein waghalsiges Gebäude aus Lügen und Betrügen. Ihr Freund Johannes und seine Eltern bemerken nichts. Viel zu beschäftigt sind sie mit den Veränderungen in ihren eigenen Leben. Doch der vergehende Sommer und die Wiedervereinigung des geteilten Landes bringen für Maria und Henner das Ende ihrer Liebe. (Quelle: Filmstiftung)

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Meinungen

Steffen · 16.04.2023

Wenn ich das Kinoprogramm nach sich womöglich lohnenden Filmen durchsuche, dann werde ich regelmäßig skeptisch bei einer Laufzeit von mehr als 100 min. Diese Skepsis wurde bei diesem Film wieder brutal bestätigt. Eine ohnehin dürftige Geschichte, die warum auch immer
in der Wendezeit spielen muss, aber genauso auch 1970 oder 2012 angesiedelt sein könnte, wurde durch das unnötige Indielängeziehen der einzelnen Szenen nur noch dünner und insgesamt sinnfrei auf 133 schwer zu ertragende Minuten aufgebläht, in denen zudem die wenigsten Charaktere wirklich ausentwickelt werden. Womöglich wollten sich die Macher ausreichend Zeit geben, um alle greifbaren Klischees über die Ossis 1990 zusammenkleistern zu können. Es sei ihnen gegönnt, aber bitte verschont mich doch mit dem gebastelten thüringisch-sächsisch-werweißwas Fantasiedialekt, mit dem alle Darstellerinnen und Darsteller überfordert waren und den sie schlicht nicht durchhalten konnten. Wie wäre es denn, wenn man es zur Abwechslung bei solchen Filmen mal mit Mecklenburgisch versuchte? Da ließe sich womöglich sprachlich weniger falsch machen, als bei diesem Film geschehen, und wir würden zudem wohltuend daran erinnert, dass der düstere Osten nicht ausschließlich aus seinem Süden bestand. Dann würde ich mir vielleicht auch die dunkelbraun-miefige Ausstattung und Atmosphäre in den bäuerlichen Räumlichkeiten gefallen lassen, aus den Sechzigerjahren geborgt und, natürlich, so zwanghaft symbolisierend wie eben ein weiterer oberflächlicher Griff in die Klischee-Kiste, denn an Solches haben wir uns ja inzwischen gewöhnt.

Olav parnem · 26.02.2023

Ist Johannes eigentlich von gar keinem Interesse? Wie geht Marie denn mit ihm um?
Zumindest ist sie ja angeblich Johannes Freundin, und ich glaube nicht dass die beiden eine offene Beziehung vereinbart hatten.