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In Sachsen begegnen ehemalige Arbeiter*innen des Kombinats „Fortschritt“ syrischen Geflüchteten: Es überlagern sich nostalgische Erinnerungen mit PEGIDA, Hilfe beim Deutschkurs mit alten Pionierliedern. Gibt es etwas, das die Distanzen überwindet und zwischen ihnen auf Gemeinschaft hoffen lässt?

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen (2019)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Was ist hier befremdlich?

Tief im Osten, wo die Sonne über grünen Wiesen scheint, steht die Ruine eines alten Kombinats mit dem Namen „Fortschritt“. Hier im Tal der Ahnungslosen, jener Region der DDR, die kein Westfernsehen empfangen konnte und am weitesten von der BRD entfernt lag, begegnen sich in Florian Kunerts Debütfilm junge syrische Geflüchtete und ehemalige Mitarbeiter*innen des Kombinats. Was entsteht in dieser Anordnung? Und gibt es das: „Fortschritt im Tal der Ahnungslosen“?

Die Ruine der ehemaligen Produktionsstätte für Landmaschinen dient Kunert als geradezu phantastischer Ort, an dem Vergangenheiten zu Gleichzeitigem werden können: Da ist die goldene Nostalgie eines einfachen Lebens in der DDR und ihre Rückseite eines Überwachungsstaates. Da erscheinen die Geister der unmittelbaren Kriegserinnerungen junger syrischer Männer und die Eindrücke ihres neuen Lebens in Deutschland. Es kreuzen sich die offenen und freundlichen Begegnungen der sächsischen Ureinwohner*innen mit deren gleichzeitig grölender Teilnahme an PEGIDA-Kundgebungen.

Kunerts Fortschritt im Tal der Ahnungslosen interessiert sich für genau diese eigenartige Dynamik des Verwebens verschiedener Zeiten und Erinnerungen. Wie ist es möglich, von so etwas wie Fremdheit zu sprechen, wenn schon das Eigene derart Widersprüchliches zu vereinen hat? Wie können Menschen im selben Satz erzählen, keine DDR-Regimegegner gewesen zu sein, nur um dann festzustellen, dass das Unrecht des Regimes ohne die zahllosen Mitläufer auch nicht denkbar gewesen wäre? Wie lassen sich die freundschaftlichen Beziehungen zwischen DDR und Syrien, Sachsen und Gastarbeitern, mit dem gegenwärtigen Rassismus in Einklang bringen?

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen versucht gar nicht erst, dort eine zwingende Kausalität zu konstruieren, wo es sich vielmehr um verzweigende Wege handelt, die sich zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder kreuzen, die sich in der abgerissenen Ruine des Kombinats überlagern, das zwischenzeitlich eine Unterkunft für Geflüchtete war. Der Film findet für all diese Ambivalenzen gerade in den kleinen Gesten der Berührung treffende Bilder, die jede zeitliche und räumliche Distanz überwinden: Der ehemalige Mitarbeiter, nach Jahrzehnten zurück an seinem Arbeitsplatz, droht über den Schutt zu stolpern – und wird vom Arm eines jungen Syrers gestützt. Der junge Syrer lernt einen Mähdrescher zu fahren – seine Hand am Steuer wird von einer kurzen Berührung seines Beifahrers geführt, wenn sie abzurutschen droht.

In diesen winzigen Momenten der Begegnung liegt etwas, das sich weder aus der Geschichte und den Geschichten der Menschen erklären, noch von Hass und Ausgrenzung zerstören lässt. Das Zusammentreffen des vorgeblich Fremden und vorgeblich Heimatlichen erweist sich in den Beobachtungen des Films als Verbindung von bereits in sich keineswegs einheitlichen, zutiefst ambivalenten Gemeinschaften. Wie wunderbar die Inszenierung dieses Film als Dokumentar-Komödie funktioniert, zeigt sich im triumphalen und großartig grotesken Schlussbild: Auf einem riesigen Mähdrescher stehen die jungen Syrer, am Steuer der sächsische Landwirt. Sie fahren in einer einsamen Parade durch die Provinzstadt, in ihren Blicken liegen Würde und Belustigung, Erleichterung und die Ungewissheit unsicherer Zukunft. Genau dort erscheint eine kleine Hoffnung: Vielleicht kann menschliche Nähe allen Gegensätzen zum Trotz doch siegen.

Fortschritt im Tal der Ahnungslosen (2019)

Überschattet von fremdenfeindlichen Ausschreitungen in Dresden treffen sich ehemalige Werksarbeiter der DDR und syrische Flüchtlinge in einem selbstorganisierten Integrationskurs um Erinnerungen an ihre verlorene Heimat zu beleben.

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Meinungen

Jens Zimmermann · 18.10.2021

Ich habe diesen Film gesehen. Im Kino meiner Heimatstadt Neustadt in Sachsen, also gewissermaßen im Brennpunkt des Geschehens. Was ich mir versprochen hatte: Bilder aus einer vergangenen Zeit, als der Landmaschinenhersteller Fortschritt das zweitgrößte Kombinat der DDR war, mit Sitz in ebendiesem 10.000-Einwohner-Städtchen. Ein Blick auf den schwierigen Übergang und letztlich die Abwicklung des Industriestandorts. Was ich gesehen habe: Zusammenhanglose Szenen, die herzlich wenig mit Neustadts Geschichte zu tun haben. Ein an den Haaren herbei gezogener Bogen von einigen Syrern, die in den 1970er und 1980er Jahren hier tätig waren, zu syrischen Flüchtlingen, die viel zu jung sind, um diese Zeit erlebt zu haben. Höhepunkt dieser überzogenen Darstellung: Syrer, die in Kampfgruppenuniformen gesteckt, im Gleichschritt marschieren, eine DDR-Fahne hissen und DDR-Urkunden überreicht bekommen. Die einheimische Bevölkerung wird als etwas hinterwäldlerisch dargestellt (das war jedenfalls mein Eindruck), während unerwähnt bleibt, dass die hier tätigen Ingenieure und gut ausgebildete Facharbeiter Landmaschinen herstellten, die auch im Westen gut verkäuflich waren. Der äußerst fähige Generaldirektor Dr. Bernhard Thieme, der diese Firma von einem ganz kleinen Betrieb zu einem der wenigen erfolgreichen Großbetriebe der DDR formte, kam überhaupt nicht vor. - Aus meiner Heimatstadt kenne ich nur negative Rezensionen. Aber vielleicht fehlen mir und meinen Mitbürgern ja nur der tiefere Blick auf eine dem Zeitgeist folgende moderne Filmkunst.