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In seinem zweiten Spielfilm zeigt Simon Jaquemet, wie ein Lebensentwurf in sich zusammenbricht, als die Geister der Vergangenheit plötzlich an die Tür klopfen. Erreicht das Seelendrama eine ähnlich Wucht wie sein Debütwerk „Chrieg“?

Der Unschuldige (2018)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Im falschen Leben?

Entscheidungen bestimmen Lebenswege, geben Richtungen vor – und treffen einen manchmal weit im Nachhinein unerwartet heftig. Diese Erfahrung untersucht Regisseur und Drehbuchautor Simon Jaquemet, der 2014 mit dem preisgekrönten Jugenddrama „Chrieg erfolgreich debütierte, in seiner zweiten Spielfilmarbeit „Der Unschuldige, die eine vermeintlich konventionelle Prämisse zu einem ungewöhnlichen Seelentrip ausweitet und dem Betrachter einiges an Geduld abverlangt.

Eigentlich hat Ruth (Judith Hofmann) keinen Grund zum Klagen. Gemeinsam mit ihrem Mann Hanspeter (Christian Kaiser) und ihren beiden Töchtern wohnt sie in einem schmucken Eigenheim in einer schweizerischen Kleinstadt. Einen großen Platz in ihrem Alltag nimmt das Engagement für eine christliche Freikirche ein, in der Ruth einst ihren Gatten kennenlernte. Auch beruflich läuft es für sie nicht schlecht. Immerhin begleitet Ruth als Tierärztin in einer Forschungseinrichtung mit einer Kopftransplantation bei Rhesusaffen eine möglicherweise bahnbrechende Operation. Ihren sicheren Halt verliert sie allerdings, als sie ihren Ex-Freund Andreas (Thomas Schüpbach) wiederzusehen glaubt, der nach 20 Jahren vorzeitig aus der Haft entlassen wird. In den Knast wanderte er damals für einen Raubmord, den er stets bestritten hat.

Was hier nach einem eher klassischen Krimidrama klingt, entfaltet schon im Anfangsteil eine seltsam irritierende Kraft. Erst mit Verzögerung begreift man, warum Ruth aus der Fassung gerät und wie sich die Geschehnisse sinnvoll zusammenfügen. Anders als man es vermuten würde, interessiert sich Jaquemet im Folgenden jedoch nicht für die Frage nach der Schuld. Das Aufrollen des Verbrechens, das der Regisseur über fiktive Fernsehberichte kurz illustriert, bleibt aus. Ins Zentrum rückt stattdessen die Sinnkrise der Protagonistin, die sich zunehmend verfolgt fühlt und plötzlich mit früheren Entschlüssen und ihrer aktuellen Lage hadert: War es richtig, sich von Andreas abzuwenden und eine Familie zu gründen? Weshalb dringt er nun offenbar wieder in ihr Leben ein? Wie soll sie reagieren? Empfindet sie vielleicht noch immer etwas für ihn? Und ist sie im Kreise ihrer Liebsten wirklich glücklich?

In Der Unschuldige zeichnet Jaquemet das Porträt einer aufregend widersprüchlichen Frau, die einerseits durch den Glauben ihrer Freikirche Halt gefunden hat, andererseits aber echte Geborgenheit zu vermissen scheint. Zu Hause wird gemeinsam gebetet und gesungen. Familiäre Wärme ist aber nicht – oder nicht mehr – zu spüren. In das komplexe, von Gegensätzen geprägte Bild passt auch Ruths Beruf, der ihrem religiösen Leben diametral entgegensteht. Als Wissenschaftlerin greift sie schließlich gezielt in Gottes Schöpfung ein.

Das Auftauchen ihres ehemaligen Partners sorgt für handfeste Verunsicherung und weckt gleichzeitig unterdrückte Begehrlichkeiten, wie eine leidenschaftliche Sexszene beweist. Nicht nur in diesem Augenblick verwischt der Film gezielt die Grenzen zwischen Realität und Fantasie. Andreas könnte ebenso gut ein Hirngespinst sein. Darauf deuten sein stets phantomhaftes Erscheinen und eine brisante Information hin, die Ruth und der Zuschauer schon früh erhalten. Jaquemet belässt das Geschehen häufig aber in der Schwebe, arbeitet mit Auslassungen und Andeutungen, bricht Stränge ab und verweigert klare Antworten. Surreale Qualitäten erreicht Der Unschuldige spätestens dann, als es zu einer beklemmenden Teufelsaustreibung kommt. Bereits zuvor finden sich in der Inszenierung und der Schauplatzgestaltung eigenartige, unheimliche Elemente. Etwa, wenn Ruth einen Detektiv aufsucht, dessen Büro in einem merkwürdig labyrinthischen Gebäude liegt.

Thematisch wirkt das Drama stellenweise ein wenig überfrachtet und schafft es nicht, allen aufgeworfenen Überlegungen in gleichem Maße gerecht zu werden. Dass man auch in sperrigen Passagen nicht das Interesse verliert, ist vor allem das Verdienst von Hauptdarstellerin Judith Hofmann. Vielerorts macht sie Ruths inneren Kampf auf zurückhaltend-subtile Weise greifbar. In einigen Momenten bricht es allerdings glaubhaft aus ihr heraus. Dank des facettenreichen Spiels begreift man sehr deutlich, was es heißt, wenn ein Mensch sein ganzes Leben mit einem Schlag in Frage stellt.

Der Unschuldige (2018)

Als nach 20 Jahren Gefängnis ihr ehemaliger Verlobter wieder auf freiem Fuß ist, ist Ruths Leben zerrissen zwischen dem Wunsch, ihr streng christliches Familienleben aufrecht zu erhalten, und der bedrohlichen Anziehung zu diesem Mann. Den Mord, für den er eingesessen hat, hat er nie gestanden.

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Meinungen

Ingeborg Längsfeld · 06.07.2021

Film "Der Unschuldige", Montag 5.7.21 im ZDF:
Dem Kommentar von B. Schäfer stimme ich voll zu! Die Hauptdarstellerin lässt - obwohl oder weil?- in der Rolle der Wissenschaftlerin außerdem jede Art von persönlicher Klugheit vermissen! Indem sie weitgehend unfähig ist, ihre Gefühle anderen gegenüber in irgendeiner sprachlichen Form verständlich zu machen, hangelt man sich als Zuschauer von einer düsteren Szenerie zur anderen, in die man angestrengt versucht Licht hineinzubringen oder so was wie geistige Erleuchtung. Diese Art von religiöser Besessenheit passt heute nicht mehr zur gebildeten Schicht. An den Gymnasien kann man heute Religion durch Philosophie ersetzen- in welchen bildungsbürgerlichen Familien sollen sich denn noch Familiendramen wie in diesem misslungenen Film abspielen? Autor bzw. Regisseur sollte mal heutigem gymnasialen Unterricht in Religion bzw. Philosophie beiwohnen, um zu sehen, wo sich dort in den Gefühlen Heranwachsender bzw. der Lehrerschaft selbst die wirklichen Dramen abspielen. Qualvoller Film durch künstlich hochgespielte seelische Konflikte! Zum Problem "Soll man immer die Wahrheit sagen?" in Dreiecksbeziehungen (Affären) bringt eine Lektüre philosophisch-psychologischer Argumente z.B. von Psychoanalytiker W. Schmidbauer einiges mehr an Verständnis und Lösungsmaterial!

Bernd Schäfer · 03.02.2020

Hätte der Cutter besser gearbeitet und der Regisseur nicht versucht, möglichst viel Filmlänge zu erreichen, hätte der Film sehenswert sein können.
Einen Stoff für 90 aber auf fast die doppelte Länge künstlich (mit vielen unnötigen und oft viel zu langen Einblendungen) aufzublähen, nahm uns die Lust, den Film komplett anzuschauen. Wir spulten 50 Minuten vor, schauten den Rest an und hatten nie das Gefühl, wirklich etwas versäumt zu haben.
Fazit: Weniger wäre in diesem Fall mehr gewesen.