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Sergey Dvortsevoy wirft sein Publikum in die Höllenstadt Moskau und erlaubt ihm kein Entkommen. Das ist dröhnend, laut, schrill – und konfrontiert mit unbarmherzigen Fragen.

Ayka (2018)

Eine Filmkritik von Beatrice Behn

Überlebenskampf

Moskau ist die Hölle. Und in dieser Hölle wohnt Ayka (Samal Yeslyamova). Am Anfang ist sie im Krankenhaus. Sie hat gerade ein Kind bekommen, die Geburt muss schwer gewesen sein, denn es geht ihr nicht gut. Sie soll ihren Sohn stillen, schnauzt die Schwester sie an. Ayka geht aufs Klo. Und verschwindet dann panisch aus dem Fenster. Ab hier sieht man die junge Frau in ihrem viel zu dünnen Parker fünf grauenhafte Tage lang auf den Straßen laufen.

Sie braucht Geld, aber wer braucht das nicht in Moskau? Die wenigsten haben es und die paar, die so viel Kohle haben, dass sie gar nicht wissen, wohin damit, würden eine wie Ayka nicht einmal als Menschen begreifen. Aykas Telefon klingelt ununterbrochen. Sie nimmt ab und wird angeschrien. Wo bleibt das Geld? Ayka verspricht, dass es bald kommt, geht dann Schmerztabletten essend arbeiten. Doch am Ende des Tages haut der Arbeitgeber mit dem Geld ab. Ihr bleibt nichts. Ayka geht nach Hause. Dieses Zuhause ist eine Wohnung, die sie sich mit dutzenden anderen teilt. Die meisten sind Illegale aus Kirgisistan, so wie sie. Aber selbst hier, in ihrem winzigen Bett, ist kein Entkommen. Das Telefon klingt, der Bauch schmerzt, die Suche nach einem Job, nach Geld geht weiter. Dieses Höllen-Moskau ist auch hier und umzingelt sie mit seinen Geräuschen. 

Dafür sorgt Regisseur Sergey Dvortsevoy mit der Inszenierung seines zweiten Werkes nach Tulpan. Das Sounddesign erlaubt der Stadt, als eine Art Protagonistin aufzutreten, die immer wieder Aykas Leben und die Ohren des Publikums auf schrille, laute, störende Weise infiltriert. Diese Stadt ist aggressiv, ihre Geräusche könnten aus einem Horrorfilm stammen. Gegen sie muss Ayka genauso ankämpfen wie gegen den Schnee, der konstant alles zuschneit und der eh schon fragilen Frau das Leben noch schwerer macht. Die Kamera kollaboriert hier ebenfalls. 

Sie ist stets an der jungen Frau, ganz nah, viel zu nah, als gäbe es keinen Spielraum für sie. Auf ihre Art hat sie schon fast etwas Dokumentarisches. Sie stolpert und wirbelt um die Figur herum, vor allem in den Straßenszenen ist sie wackelig, manchmal muss sie der Frau gar hinterherrennen. Das erinnert an die Dardenne-Brüder.

Ayka ist eine Makroaufnahme einer Frau, die keinen Ausweg mehr hat und mit dem bisschen Raum, den sie für sich beanspruchen kann, alles versucht, um Freiheit zu erlangen. Dies bedeutet vor allem, dass man ihr auf der Suche nach Jobs folgt und dabei zusehen muss, wie sie sich dank starker Nachblutungen kaum auf den Beinen halten kann. Und man merkt ihrer Umgebung an: Wenn ihr die Kraft ausgeht, wird man sie entweder zerfleischen oder einfach verrecken lassen. Niemand hier hat Empathie. 

Nur einmal trifft sie auf etwas Anteilnahme. Eine Putzfrau, ebenfalls aus Kirgistan, gibt ihr einen Tee, die Adresse einer Ärztin und später einen kleinen Job. Es sind diese Momente, die einen Hauch von Wärme in sich tragen, die das ganze Elend und Unmenschliche dieser Stadt und dieses Filmes zeigen. Was ist nur schiefgegangen, dass diese Gesellschaft so kalt und unbarmherzig geworden ist? Doch auch Ayka ist keine Unschuldige. Sie ist genauso hart und unerbittlich, sie muss es sein, sonst ist es aus. Und genau das macht den Kern des Filmes aus, dessen Inhalte letztendlich auf der Ebene von Empathie getestet werden. Man kann der Frau und ihren Umständen nicht entkommen, doch muss und kann man all ihre Entscheidungen so einfach mittragen?

Es ist ein wunderbares Dilemma, in das Film einen hier schubst, denn es ist zu einfach, aus dem bequemen Kinosessel heraus Urteile zu fällen. Gerade deshalb insistiert die Inszenierung auf eine Immersion, auf ein Verkürzen der Abstände, denn ganz nah dran heißt eben in gewisser Art auch mit dabei zu sein. Und wie sieht es dann aus mit dem Urteilswillen und der Urteilsfähigkeit? Wie auch immer die Antwort ausfällt, eines ist jedenfalls klar. Im Gegensatz zu den Menschen in dieser Höllenstadt müssen wir hinschauen. Ganz lang und ganz genau. Und das ist auch gut so.

Ayka (2018)

Die junge Kirgisin Ayka lebt und arbeitet illegal in Moskau. Nach der Geburt ihres Sohnes in ihrem Krankenhaus lässt sie ihren neugeborenen Sohn dort zurück und verschwindet. Doch wenig später lassen ihr ihre Muttergefühle keine Ruhe und so begibt sie sich auf eine verzweifelte Suche nach dem zurückgelassenen Säugling.

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Meinungen

Sven · 15.07.2020

Ja, tatsächlich, da fehlen mir die Worte um diesen Film, nein viel mehr dieses Meisterwerk zu beschreiben. Ich habe bereits viele tiefergreifende Filme gesehen aber wenige, die das so gut konnten und Alltagsleben eines armen Menschen so detailliert zeigen und widerspiegeln können, wie dieses einzigartige Drama. Immer wieder musste ich mich im Film zusammenreißen und daran denken, wie gut wir es in Deutschland doch haben und wie undankbar wir irgendwo doch immer wieder sind. Außerdem, immer wieder musste ich erschreckend feststellen, wie gut ich doch diese kalte Gesellschaft bereits kenne. Für mich gibt es allerdings jeden Tag einen kleinen Funken Hoffnung, weil ich Menschen um mich herum habe, die nicht so kaltherzig und gierig sind, die gerne teilen und wissen, was Nächstenliebe bedeutet, die mich wieder aufmuntern und genauso gerne für andere da sind.
Ein liebes Dankeschön an kino-zeit.de, für diese wundervolle Inhaltsangabe (: Wie sicherlich auch andere Leser und Zusachauerz, bzw. der Verfasser, dieser Inhaltsangabe, wüsste ich trotzdem zu gerne, wie der Film weitergehen könnte. Wird Ayka je wieder glücklich, wird sie je wieder aus diesem Dilemma heraus finden? Wie sehr wünsche ich mir, dass solche Menschen wie Ayka, sicher und wohlbehütet, aus diesem Tief herausfinden aber mein Wunsch wird nicht viel mehr einem Traum gleichen, als das ich selbst instande wäre, da einzugreifen und zu helfen. Ehrlich gesagt, ich möchte sogar beruflich helfen, weil ich mit solchen Menschen fühle und selbst aus einer armen Umgebung heraus, aufgewachsen bin - ja nahezu Tag ein, Tag aus, wenn der Alltag nicht meine Gefühle unterdrückt, muss ich daran zurück denken, wie anstrengend damals alles gewesen ist, als ich auch kaum etwas besaß. Aber ich denke, ich weiche etwas vom Thema ab, daher in diesem Sinne, wünsche ich allen Zuschauern aber auch allen, die dieses Meisterwerk bereits gesehen haben, eine erkenntnisreiche Stunde und vor allem, bleibt genauso stark und zuversichtlich, wie viele andere vor uns, helft einander so gut ihr könnt.
Grüße aus dem schwäbischen Stuttgart!