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Maysoon Pachachi erzählt in „Unser Fluss… Unser Himmel“ episodenhafte Geschichten aus der Nachbarschaft in Bagdad.

Unser Fluss... Unser Himmel. (2021)

Eine Filmkritik von Jens Balkenborg

Ein heimatfilmisches Sittenbild

Die ersten Bilder des Dramas „Unser Fluss… Unser Himmel“ von Regisseurin Maysoon Pachachi fangen das Gefühl zwischen Angst und (versuchter) Normalität bildstark ein (Kamera: Jonathan Bloom). Wir sind in einer Wohnung, eine Hand fährt über einen Stadtplan, eine nervös gerauchte Zigarette. Hubschrauber und Schüsse sind zu hören. Dann ein Blick von einem Dach, aus dem Nachbarhaus ist „Stille Nacht, Heilige Nacht“, Lichterketten sind zu sehen, auf der Straße lassen zwei Wachmänner ein Auto passieren, das kurz darauf explodiert. Momente später zieht ein Fährmann die Leiche einer jungen Frau aus dem Fluss, deren Arme und Gesicht mit Schriftzeichen übersät sind.

Wir sind im Bagdad des Jahres 2006, es ist Winter. Drei Jahre zuvor, am 20. März 2003, begann die von den Amerikanern geleitete Militäroperation, die zur Eroberung Bagdads und zum Sturz des Diktators Saddam Husseins führte. Die US-Regierung unter George W. Bush begründete die Invasion damit, dass man einen angeblich bevorstehenden Angriff des Iraks mit Massenvernichtungsmitteln auf die USA verhindern wolle. 

Der Film der im Irak geborenen und dort sowie in den USA und in London ausgebildeten Regisseurin ist (film-)politisch und thematisch relevant. Er ist, so liest man auf der Homepage des Verleihs, der erste koproduzierte Spielfilm einer Regisseurin irakischer Herkunft. Und: Wie viele international sichtbare Filme handeln vom Leben der »kleinen Leute« im kriegs- und repressionsgeschundenen Bagdad? 

Vor dem Hintergrund der realen Ereignisse erzählt Pachachi ihre mit eigenen und fremden Erfahrungen angereicherte, im Kern fiktive Geschichte. Wobei der Plural besser passt: Geschichten. Denn die Regisseurin fächert ihren Film als Robert Altman’sches episodisches Personenpanoptikum auf und verwebt die Schicksale ihrer Figuren, manche fester, manche loser. 

Der empathische Anker ist die alleinerziehende Schriftstellerin Sara (Darina Al Joundi), die mit ihrer achtjährigen Tochter Reema, ihrer Mutter Nermeen und ihrem Bruder Yahya, einem Baugutachter, zusammenwohnt. „Du hast mir gestern wieder keine Geschichte erzählt“, beschwert sich ihre Tochter, woraufhin die Mutter kontert, dass sie nichts mehr zu erzählen habe. Wegen des Schreckens in der geliebten Heimat, die Sara einmal als kranken geliebten Menschen beschreibt, den man nicht verlässt, findet die Autorin keine Worte mehr. Das Land ist weiterhin besetzt und zerrissen, es gibt nächtliche Ausgangssperren. Die Gewalt ist Teil des Alltags, Menschen werden entführt, weil sie angeblich mit den Amerikanern zusammenarbeiten, eine Frau dafür erhängt. „Du darfst niemals alleine auf die Straße“, mahnt Sara ihre Tochter.

Die Autorin, die Briefe für die Nachbarschaft auf Englisch übersetzt, ist der liebevolle Kit zwischen all den Menschen, mit denen sie direkt oder indirekt zu tun hat. In dem personell breit angelegten Film spielen viele eine Rolle: Taxifahrer Kamal (Basim Hajar), der gerade Vater wird, sich (über-)engagiert darauf vorbereitet und mit gefälschten Dokumenten als Buchhalter arbeiten will; sein Schwager Kareem (Zaydun Khalaf), der in einer Bäckerei arbeitet, die nur dank Schutzgeldzahlungen existieren kann oder Christin (Badia Obaid), deren Tochter Nour mit Reema befreundet ist – und noch viele mehr.

Unser Fluss… Unser Himmel begleitet die Nachbarschaft bei ihren Problemen und Konflikten und versucht, eine Art heimatfilmisches Sittenbild zu entwerfen. Die Unruhen und die Gewalt tangieren die Ereignisse, bleiben aber eher am Rand als allgegenwärtige Bedrohung. Pachachi, die das Drehbuch gemeinsam mit der irakischen Romanautorin Irada Al-Jubori geschrieben hat, erschließt filmisch ein wenig bis gar nicht kartografiertes Terrain – und das mit einem humanistischen Blick. Ihr Film erzählt davon, wie wichtig Solidarität und Gemeinsinn generell und gerade in Ausnahmesituationen sind.

Nur leider gelingt es nicht, den eigenen Ambitionen ästhetisch und dramaturgisch gerecht zu werden. Zu viele Figuren und zu viele der kleinen Geschichten bleiben blass. Es fehlt an der episodischen Kunstfertigkeit und Dichte des amerikanischen Vorbilds. Und mit fortschreitender Handlung verliert der Film auch seine visuelle Sprache, die zu Beginn noch sehr ausgeprägt ist. Vieles wird in die Dialoge gelegt, wie wenn ein Kind im Film spielerisch meint, schauspielern zu können und sagt „Ich fürchte mich, ich habe furchtbare Angst“. Ein ums andere Mal hätten Bilder mehr erzählt als dialogische Erklärungen und Rekapitulationen von Vergangenem. Schade auch, dass das Motiv von Saras künstlerischer Sprachlosigkeit kaum aufgegriffen wird.

Dringlich in seiner Botschaft bleibt Unser Fluss… Unser Himmel dennoch. Die Regisseurin hat mit einem Kollegen das „Independent film & Television College“ gegründet, das eine kostenfreie Ausbildung ermöglicht, sowie in ihrer Wahlheimat Großbritannien das Netzwerk „Act together: Women’s Action for Iraq“. Ihr aktivistisches Herz schlägt auch in ihrem Film.

Unser Fluss... Unser Himmel. (2021)

Bagdad im Winter 2006. 3 Jahre nach der US-geleiteten Invasion. Extreme sektiererische Gewalt, nächtliche Ausgangssperren. Und die fortgesetzte Besatzung des Landes.

Eine Nachbarschaft in Bagdad mit Menschen unterschiedlicher Religion und Herkunft im Winter 2006.

Eine Nachbarschaft, die sich umeinander kümmert, zusammenhält und es schafft verbindende und schöne Momente trotz Anschläge, Leid und Elend, zu erleben. Die Menschen kämpfen um Normalität und Nähe, lachen sich ihre Ängste von der Seele, trauern und weinen um Verlorenes und setzen sich alle damit auseinander, welche Zukunft sie im Irak, in Bagdad, welche Zukunft ihre Kinder dort haben können.

Sara, eine alleinerziehende Mutter und Autorin, kann nicht mehr schreiben, denn alles, was sie schreiben würde, wäre eine Lüge: Sara findet es unmöglich Wörter zu finden, die exakt den Horror und die Traumata des Krieges beschreiben würden.
Sara ist das Herz der Nachbarschaft. Ihre Wärme durchdringt die liebevolle Beziehung zu ihrer 9-jährigen Tochter Rima und strahlt auf alle Freundschaften, Beziehungen und Begegnungen in ihrem Alltag aus.

Auch Sara überlegt mit ihrer Tochter zu flüchten, wie so viele in ihrem Viertel. Es gibt keine einfache Antwort in diesem Dilemma, zu sehr ist sie mit Menschen und Stadt verbunden. Für Rima ist es unvorstellbar Bagdad zu verlassen.

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