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In seinem ersten langen Dokumentarfilm blickt Regisseur Max Eriksson zurück in die 1990er und auf einen waghalsigen Skateboarder. Auf einen rasanten Aufstieg folgt ein tiefer Fall.

The Scars of Ali Boulala (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Hasardeur auf dem Brett

Wer erinnert sich noch an die 1990er, als Baggy Pants und Hip-Hop die Schulhöfe eroberten und auf der Halfpipe im Park alle Skateboardlegende Tony Hawk nacheiferten? Im Jugend- und Musikfernsehen war die Trendsportart dauerpräsent, gepusht von Firmen, die bei den kaufkräftigen Teenagern abkassierten. Eines ihrer Idole war der Schwede Ali Boulala. Sein Landsmann Max Eriksson erzählt dessen turbulente Geschichte in einem Dokumentarfilm.

:Selbst wer vom Skateboarden keinen Schimmer hat, kommt nicht umhin, Ali Boulalas Talent zu erkennen. Kaum die ersten Pickel im Gesicht skatet der 1979 in Stockholm Geborene schon bei den Großen mit. Und mit gerade einmal 16 Jahren schickt ihn sein kalifornischer Sponsor dann mit einer Gruppe Kollegen auf große Tournee durch die USA. Zwischen Halfpipe, Van und Motelzimmern beginnt der schleichende Abstieg.

Wenn eine Horde Jungs ohne elterliche Aufsicht auf die Welt losgelassen wird, dann bedeutet das zunächst einmal einen Haufen Spaß. Streiche, Mutproben, Blödeleien im Supermarkt – vieles davon im Homevideo-Stil festgehalten, ab 2003 vom Schotten Ewan Bowman, der, nur wenig älter als die Jungs, die er filmte, keine Ordnung ins Chaos bringen konnte.

Irgendwo auf dieser Reise zum Erwachsenwerden tauscht Ali Boulala die weiten Hosen gegen ein Punk-Outfit, die Klampfe, mit der er seinen Kollegen morgens weckt, immer in der Hand. Unterwegs im Van klettert er bei einem Zwischenstopp schon mal auf einen Baum, um aufs Dach einer Tankstelle zu gelangen. Beim Zusehen fühlt sich das alles ein wenig wie Schullandheim oder ein Ferienlager an. Und wie dort bleibt es nicht bei Streichen und Mutproben. Die erste Zigarette wird geraucht, das erste Bier getrunken, verbotenen Substanzen eingeworfen. Doch was, wenn das Ferienlager nie endet?

Max Eriksson hat seinen Dokumentarfilm als lange Rückblende aufgebaut. Als Rahmenhandlung dient ihm ein Besuch in einem Häuschen auf dem schwedischen Land, wo sich Pokale, alte Merchandising-Produkte und Reise-Souvenirs stapeln. Gemeinsam mit seiner Mutter Raija kramt Boulala in Erinnerungen. Zwischendurch kommen seine Ex-Kollegen, zu denen unter anderem der Finne Arto Saari, der Däne Rune Glifberg und der Australier Dustin Dollin zählen, zu Wort.

In der Rückschau setzt sich ein erschreckendes Mosaik zusammen. In der eigenen Tour-Blase gefangen, nahm keiner der Skater den eigenen Drogenkonsum als bedenklich wahr. Selbst nach dem fatalen Verkehrsunfall 2008 in Australien, auf den der Dokumentarfilm dramaturgisch zusteuert, habe man einfach weitergemacht, erinnert sich Dollin. Boulalas bester Freund Shane Cross, der bei ihm auf dem Motorrad saß, kam gerade 20-jährig ums Leben. Boulala ging dafür zwei Jahre ins Gefängnis. Doch kaum war die Trauerfeier vorbei, wurde das erste Bier gekippt. Beängstigende Bewältigungsstrategien von Menschen, die im Schnelldurchlauf und nebenbei erwachsen geworden sind. Heute sind die meisten von ihnen seit Jahren trocken.

All die Action und das Chaos, die Eriksson seinem Publikum nur vereinzelt in Musikclip-Manier vor den Latz knallt und ansonsten auf Ruhe und Übersicht setzt, täuscht jedoch nicht über die Versäumnisse dieses Dokumentarfilms hinweg. Die Sponsoren werden bezüglich ihrer Verantwortung und der Verantwortungslosigkeit, die sie an den Tag legten, nicht befragt. Bei Raija Boulala, bei der vermutlich auch finanzielle Gründe eine Rolle gespielt haben dürften, ihren Sohn mit 16 Jahren mutterseelenallein in die USA zu schicken, bohrt Eriksson nicht nach. Und (junge) Frauen, die im Leben von Skateboardern mit Rockstar-Status und -Livestyle garantiert eine Rolle gespielt haben, kommen bis auf Boulalas Frau Amanda keine vor.

Gehookt sind wir trotzdem. Ali Boulalas waghalsige Aktionen – etwa wenn er wieder und wieder auf seinem Brett eine endlos erscheinende Treppe hinabspringt, nur um am Absatz der 25 Stufen schmerzhaft auf den Asphalt zu krachen – kann man für ihren Mut bewundern oder für ihren Leichtsinn verteufeln, kaltlassen sie keine*n. Und Boulalas Ex-Kollege Kevin „Spanky“ Long liefert dafür eine plausible Erklärung. „Ich denke, dass zwanghafte Menschen zum Skateboarden getrieben werden“, sagt Long. Auf der Jagd nach dem perfekten Trick oder Sprung immer wieder zu scheitern, habe eine Besessenheit an sich, die „normale Menschen“ nicht an den Tag legten, weil die Belohnung im Erfolgsfall zu gering sei.

Inzwischen, aus dem Gefängnis in seine schwedische Heimat zurückgekehrt und vom fatalen Verkehrsunfall körperlich gezeichnet, wirkt Ali Boulala ruhiger, nachdenklicher und weit weniger obsessiv. Nach Australien darf er nicht einreisen und auch den USA kehrte er nicht freiwillig den Rücken. Auf einem Skateboard steht er nicht mehr. Die unbändige Lebensfreude scheint verflogen. Die Narben, von denen im Filmtitel die Rede ist, sind vor allem seelische. Man wünscht ihm nur das Beste.

The Scars of Ali Boulala (2021)

Schon mit 16 Jahren ist Ali Boulala an der Spitze der Skateboard-Welt angekommen: Das schwedische Wunderkind schnappt sich ein Sponsoring von Flip Skateboards, das ihn auf dem Höhepunkt des Skate-Wahns der 90er Jahre nach LA bringt. Boulala verbringt seine Tage damit, an neuen Tricks für DIY-Videos zu feilen und hängt mit einer Gruppe frühreifer Teenage-Profis ab, die Boulala für sein Charisma und seinen punkigen Stil feiern. Aber die Freuden des ausgelassenen Tourlebens fordern ihren Tribut und führen zu einem tragischen Unfall, der Boulalas Leben für immer verändern wird.

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