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Dieser Film sollte bereits bei der Berlinale 2019 gezeigt werden, dann kam alles anders. Drei Jahre später ist Zhang Yimous Drama doch noch zu sehen – und erzählt von der Magie des Kinos, die nicht immer positiv ist.

Eine Sekunde (2020)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Die nächste Vorstellung

Zhang Yimou ist ein filmischer Grenzgänger. Der erfolgreichste Vertreter der „Fünften Generation“ chinesischer Regisseure füllt mit seinen Dramen nicht nur die Säle der Programmkinos, mit den kunstvoll choreografierten Kampfeinlagen seiner Wuxia-Werke lockt er auch Martial-Arts-Fans in die Multiplexe. Sein neuer Film ist bereits ein paar Jahre alt. Eigentlich hätte er 2019 bei der Berlinale uraufgeführt werden sollen, wurde jedoch vier Tage vor dem Festivalbeginn aus dem Wettbewerb zurückgezogen. Angeblich, weil es Probleme bei der Postproduktion gab, unter der Hand wurde jedoch gemunkelt, dass die Zensurbehörde ein entscheidendes Wörtchen mitzureden hatte. Nun kommt das Drama doch noch in die Kinos und steht nur zwei Monate später auf der Plattform des Verleihers MUBI auch zum Streaming bereit. Hier wie dort können sich die Zuschauenden selbst ein Bild davon machen, was all die Aufregung sollte.

Am Anfang ist nur Sand und Wind und ein Mann. Der Namenlose (Yi Zhang) stapft durch die Wüste. Die Sonne versengt ihm das verschmutzte Gesicht, der Wind rauscht durch seine abgerissene Kleidung. Sein Ziel ist das Kino im nächsten Dorf, doch er kommt zu spät. Die Vorstellung ist zu Ende. Der Kinokurier Yang He (Yan Li) hat die Filmrollen bereits in die Satteltaschen seines Motorrads gepackt, um sie ins nächste Dorf zur nächsten Vorstellung zu transportieren. Also zieht auch der Protagonist weiter und gerät dabei mit einem Vagabunden aneinander, der es auf eine der Filmrollen abgesehen hat. Bis zur Ankunft im nächsten Dorf wechselt die entwendete Rolle wiederholt und amüsant von Hand zu Hand.

Zhang Yimou inszeniert den Auftakt seines Films als klassisches Katz-und-Maus-Spiel, bei dem das Publikum den gleichen Kenntnisstand wie die Figuren besitzt. Woher der Protagonist kommt, wohin er geht und weshalb er ein so großes Interesse an der Filmvorführung hat, erschließt sich erst sukzessive. Schnell wird hingegen offenbar, dass der Vagabund gar kein Vagabund, sondern eine Vagabundin in Männerkleidung ist und noch dazu ein Mädchen, die Waise Liu (Haocun Liu). Doch auch ihre Motivation gibt Yimou nicht sofort preis und hält dadurch die Spannung hoch. In diesen ersten Minuten sieht es so aus, als hätte er eine vergnügliche Gaunerkomödie gedreht. Der historische Hintergrund, vor dem sich all dies abspielt, lässt daraus schließlich ein Drama erwachsen.

Die Handlung basiert auf einem Roman von Geling Yan. Schon Yimous Filme The Flowers of War (2011) und Coming Home (2014) waren Adaptionen der 1958 geborenen Schriftstellerin, deren populäre Werke auch schon von Chen Kaige, Joan Chen und Sylvia Chang verfilmt wurden. Auch wenn die drei Filme inhaltlich nichts miteinander zu tun haben, bewegt sich Yimou bei seinen Yan-Adaptionen in der chinesischen Geschichte chronologisch vorwärts. The Flowers of War spielte 1937 mitten im Zweiten Japanisch-Chinesischen Krieg, Coming Home zu Beginn der Kulturrevolution und an deren Ende, wo nun auch Eine Sekunde angesiedelt ist. 

Wie der Protagonist aus Coming Home entkommt auch der aus Eine Sekunde einem Arbeitslager. Und auch visuell ähneln die Filme einander. Denn Yimous Stammkameramann Xiaoding Zhao bringt die Geschichte in entsättigten Farben auf die Leinwand. Ganz so extrem wie in Shadow (2018), der beinahe einem Schwarzweißfilm gleichkam, schraubt  Zhao die Farbpalette zwar nicht herunter, Primärfarben sucht man aber auch in Eine Sekunde vergebens. Von der Farbenpracht und Farbdramaturgie eines Hero (2002), House of Flying Daggers (2004) oder Der Fluch der goldenen Blume (2006) könnte das kaum weiter entfernt sein. Und selbst Yimous frühe historische Dramen Rotes Kornfeld (1988) und Rote Laterne (1991), mit denen ihm der internationale Durchbruch gelang und bei denen Changwei Gu sowie Lun Yang und Fei Zhao die Kamera führten, kamen farbenprächtiger daher.

Zhaos Sepiatöne verleihen dem Drama einen nostalgischen Anstrich, der sehr gut zum Inhalt passt. Denn Yimous neuer Film ist eine Liebeserklärung an ein aussterbendes und vielerorts bereits ausgestorbenes Medium, das analoge Kino. Yimous Publikum wird Zeuge, welche Anziehungskraft die Zelluloidstreifen auf die ländliche Bevölkerung Chinas während der Kulturrevolution ausübten und wie viel Verführungskraft in den Propagandafilmen dieser Epoche steckte. Als es gilt, eine verdreckte Filmrolle vom Schmutz zu befreien, ist es für den Filmvorführer Fan Dianying (Wei Fan), den alle nur „Kino-Onkel“ nennen, ein Leichtes, das ganze Dorf für die Reinigungsaktion zu mobilisieren. Eine Säuberung der etwas anderen Art.

Eine Sekunde ist aber auch eine Liebeserklärung an die Familie, die nicht zwangsläufig die eigene sein muss, sondern auch eine Wahlfamilie sein kann. Auch dieses Thema ist bei Zhang Yimou nicht neu; er hat es unter anderem in Der einsame Tausendmeilenritt (2005) verhandelt. In seinem neuen Film sind es nun der entkommene Sträfling und das Waisenmädchen und ihr jüngerer Bruder, die eine Ersatzfamilie bilden. 

Was an all dem von der Zensurbehörde beanstandet wurde, bleibt offen. Die Kritik an den Praktiken der Kulturrevolution, die der 1950 geborene Regisseur am eigenen Leib erfuhr, ist vorhanden, aber ebenso subtil wie moderat. Laut MUBI ist Yimous Drama, das nach einem Jahr im Giftschrank schließlich 2021 das Filmfestival in San Sebastián eröffnete und danach bei weiteren Festivals gezeigt wurde, allerdings „mittlerweile um eine Minute gekürzt“. Diese Filmminute bleibt vermutlich für immer verloren, so wie die Sekunde Film, die dem Drama seinen Namen gibt, am Ende der Geschichte für immer im Wüstensand verschwindet.

Eine Sekunde (2020)

Eine Filmkritik von Florian Koch

Als die Bilder wieder laufen lernten 

Die Berlinale 2019. Die letzte vor Corona. Sie hatte ihre Schwierigkeiten mit der Zusammenstellung des Wettbewerbs. Denn vier Tage vor dem Start wurde der chinesische Beitrag „Eine Sekunde“ plötzlich zurückgezogen. Der angebliche Grund: „Technische Probleme“. Bis heute bleiben die Hintergründe nebulös, hält sich das Gerücht um eine politisch motivierte Zensur. Zhang Yimou, der Regisseur, hat seinen Film später mehrmals überarbeitet. Nun, nach diversen erfolgreichen Festival-Teilnahmen wie in Toronto, kommt er auch in Deutschland in die Kinos. „Eine Sekunde“ beweist bei allem faden Beigeschmack, dass der Altmeister des chinesischen Films in seiner Ode an die gesellschaftliche Bedeutung des Kinos immer noch sein Handwerk versteht. 

Die Kraft des Kinos, die Liebe zum Zelluloid. Sie wurde schon in vielen Filmen beschworen. Aber wohl selten so hingebungsvoll wie 1988 in Cinema Paradiso, der oscargekrönten Tragikomödie von Giuseppe Tornatore. Der nostalgisch verbrämte Tonfall, die auch mal ganz offen ins Warmherzig-Sentimentale rutschende Erzählhaltung, sie findet sich nun in Zhang Yimous Komplementärstück Eine Sekunde wieder. Auch hier ist es ein Filmvorführer, der ins Zentrum der Handlung rückt und dem das Publikum über die Schulter blicken darf, wie er die Bilder zum Laufen bringt. Anders als Alfredo (Philippe Noiret) ist dieser sogenannte Kino-Onkel (Wei Fan) eine durchaus ambivalente, autoritäre Figur, um die sich die Schicksale zweier gesellschaftlich Ausgestoßener ranken.

Wie so oft bei Zhang Yimou, man denke nur an seine herausragenden frühen Arbeiten Rote Laterne (1991) oder Leben! (1994), sind die Auswirkungen der Kulturrevolution unter Mao Zedong direkt mit den Motivationen der Figuren verbunden – ohne dass dabei jede Nuance ausgesprochen werden muss. Gleich zu Beginn taucht Zhang (Yi Zhang) auf einer gewaltigen Düne mitten in der Wüste Gobi auf. Erkennbar auf der Flucht ist dieser Mann, gehetzt, immer mit der Angst im Nacken, doch einmal enttarnt zu werden. Warum er so unter Druck steht, das verrät Zhang Yimou lange nicht. Was diesen Zhang aber antreibt, das wird schnell klar. Die Filmrollen hat er im Blick, die im China der 70er Jahre aufwändig von einem Dorf zum anderen transportiert werden. Als Zhang den Ort der nächsten Film-Premiere erfährt, wird er Zeuge eines folgenschweren Diebstahls. Ein wuschelhaariges Mädchen, Liu (Haocun Liu), klaut aus einem der Motorräder eine Filmrolle. Und löst damit eine Hetzjagd aus, die durchaus komische Züge trägt.

Der Jäger Zhang versucht das Mädchen in der Wüste zu stellen. Doch die kann sich wehren, hat so einige Tricks auf Lager, wie es das anfängliche Road Movie in schönen Szenen-Miniaturen auf den Punkt bringt. Das immer gefährlichere, von Lügengeschichten durchtränkte Spiel der beiden, bei dem auch andere Personen wie ein LKW-Fahrer miteinbezogen werden, findet sein – vorläufiges – Ende in der Konfrontation in einem Wirtshaus mit besagtem Kino-Onkel. Er erkennt sie, die gestohlene Filmrolle, als Teil des Propagandawerks „Heroische Töchter und Söhne“, dass er in seinem Kino am selbigen Abend vorführen möchte. Die Probleme aber, sie reißen nach dieser Konfrontation nicht ab, denn der Rest des schwarz-weißen Kriegsfilms kommt nur beschädigt im Dorf an. 

Ein Motorschaden des Motorrads veranlasst den zurückgebliebenen Sohn (Rui Cao) des Kino-Onkels eine Pferde-Kutsche als Ersatztransport auszuprobieren. Eine Rolle aber, die Nr. 22, sie löst sich auf der ruckeligen Fahrt und schleift im Sandstaub hinterher. Ein Albtraum für den nach außen hin autoritären Kino-Onkel, der sich selbst für den besten Vorführer des Landes hält und dennoch Angst hat, bei dem kleinsten Fehler ersetzt zu werden. Noch schlimmer aber trifft es Zhang, der in der Nr. 22, einem Wochenschau-Bericht, seinen Lebensinhalt sieht. Denn seine von ihm entfremdete Tochter, eine angehende Studentin, hat darin einen Auftritt, der, man ahnt es, genau eine Sekunde andauert.

Der Ruf von Zhang Yimou, dem Regisseur der fünften Generation, hat in den letzten Jahren deutlich gelitten. Vorgeworfen wird ihm schon länger, dass er sich dem chinesischen Regime andienen würde, als Beispiel dafür wird immer auch seine staatstragend-opulente Inszenierung der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele herangezogen. Und auch sein Hang zum bildmächtigen Martial-Arts-Kino wie in Hero (2002) gilt vielen als Verrat an seinen Ursprüngen. Sprich an den kleinen, humanen Geschichten der 90er Jahre, die immer wieder auch die Zensur auf den Plan riefen. Eine Sekunde mag nicht der Beweis dafür sein, dass sich Yimou von der politischen Leitlinie Chinas endlich lossagt. Dafür ist die Kritik an der Obrigkeit, am Leiden unter Maos Schreckensherrschaft nicht hart, nicht offensiv genug. Und dennoch erscheint der eindrucksvoll bebilderte und gespielte Film für Yimou ein filmbiografischer Rückschritt, der sich wie ein künstlerischer Forstschritt anfühlt.

Als Yimou in seinen 20ern war, hat er es selber erlebt, das Kino als Happening. Diese eigene Erfahrung kann er dann auch in seinem Film einfühlsam und anrührend vermitteln. Der Kinoabend gleicht in Eine Sekunde einem Gottesdienst. Andächtig kommt das ganze Dorf für dieses Event zusammen, Klein und Groß, trägt Stühle von überall herbei und die verdreckte Filmrolle wie in einer Prozession vorsichtig in den umgebauten Kinosaal. Auch die Säuberungsaktion der Rollen inszeniert Yimou mit einem heiligen Ernst, der gleichsam bildmächtig wie poetisch ist. Denn das vorsichtige Putzen auf einer umfunktionierten Wäscheleine wird quasi als Film-im-Film-Schattenspiel auf die provisorische Leinwand projiziert.

Eine Sekunde lässt sich in seiner Feier des (analogen) Kinos als Ort der Begegnung, als Austausch, aber auch als gesellschaftliches Pulverfass durchaus als Warnung verstehen. Als Kulturgenuss, der verloren zu gehen droht, wenn die rituelle Handlung des Kinogangs keine Rolle mehr spielt und der vom Aussterben bedrohte Beruf des Filmvorführers, der für das Heben alter Filmschätze verantwortlich ist, verschwindet. Und das gibt diesem vordergründig leichten, nostalgischen Film eine Dringlichkeit, die ihn noch wichtiger, noch kraftvoller erscheinen lässt.

Eine Sekunde (2020)

Der Nordwesten Chinas in den 1970er Jahren: Ein Filmfan, der auf einer abgelegenen Farm lebt, beginnt ein Verhältnis mit einer Vagabundin.

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