Eine Sekunde (2020)

Als die Bilder wieder laufen lernten 

Eine Filmkritik von Florian Koch

Die Berlinale 2019. Die letzte vor Corona. Sie hatte ihre Schwierigkeiten mit der Zusammenstellung des Wettbewerbs. Denn vier Tage vor dem Start wurde der chinesische Beitrag „Eine Sekunde“ plötzlich zurückgezogen. Der angebliche Grund: „Technische Probleme“. Bis heute bleiben die Hintergründe nebulös, hält sich das Gerücht um eine politisch motivierte Zensur. Zhang Yimou, der Regisseur, hat seinen Film später mehrmals überarbeitet. Nun, nach diversen erfolgreichen Festival-Teilnahmen wie in Toronto, kommt er auch in Deutschland in die Kinos. „Eine Sekunde“ beweist bei allem faden Beigeschmack, dass der Altmeister des chinesischen Films in seiner Ode an die gesellschaftliche Bedeutung des Kinos immer noch sein Handwerk versteht. 

Die Kraft des Kinos, die Liebe zum Zelluloid. Sie wurde schon in vielen Filmen beschworen. Aber wohl selten so hingebungsvoll wie 1988 in Cinema Paradiso, der oscargekrönten Tragikomödie von Giuseppe Tornatore. Der nostalgisch verbrämte Tonfall, die auch mal ganz offen ins Warmherzig-Sentimentale rutschende Erzählhaltung, sie findet sich nun in Zhang Yimous Komplementärstück Eine Sekunde wieder. Auch hier ist es ein Filmvorführer, der ins Zentrum der Handlung rückt und dem das Publikum über die Schulter blicken darf, wie er die Bilder zum Laufen bringt. Anders als Alfredo (Philippe Noiret) ist dieser sogenannte Kino-Onkel (Wei Fan) eine durchaus ambivalente, autoritäre Figur, um die sich die Schicksale zweier gesellschaftlich Ausgestoßener ranken.

Wie so oft bei Zhang Yimou, man denke nur an seine herausragenden frühen Arbeiten Rote Laterne (1991) oder Leben! (1994), sind die Auswirkungen der Kulturrevolution unter Mao Zedong direkt mit den Motivationen der Figuren verbunden – ohne dass dabei jede Nuance ausgesprochen werden muss. Gleich zu Beginn taucht Zhang (Yi Zhang) auf einer gewaltigen Düne mitten in der Wüste Gobi auf. Erkennbar auf der Flucht ist dieser Mann, gehetzt, immer mit der Angst im Nacken, doch einmal enttarnt zu werden. Warum er so unter Druck steht, das verrät Zhang Yimou lange nicht. Was diesen Zhang aber antreibt, das wird schnell klar. Die Filmrollen hat er im Blick, die im China der 70er Jahre aufwändig von einem Dorf zum anderen transportiert werden. Als Zhang den Ort der nächsten Film-Premiere erfährt, wird er Zeuge eines folgenschweren Diebstahls. Ein wuschelhaariges Mädchen, Liu (Haocun Liu), klaut aus einem der Motorräder eine Filmrolle. Und löst damit eine Hetzjagd aus, die durchaus komische Züge trägt.

Der Jäger Zhang versucht das Mädchen in der Wüste zu stellen. Doch die kann sich wehren, hat so einige Tricks auf Lager, wie es das anfängliche Road Movie in schönen Szenen-Miniaturen auf den Punkt bringt. Das immer gefährlichere, von Lügengeschichten durchtränkte Spiel der beiden, bei dem auch andere Personen wie ein LKW-Fahrer miteinbezogen werden, findet sein – vorläufiges – Ende in der Konfrontation in einem Wirtshaus mit besagtem Kino-Onkel. Er erkennt sie, die gestohlene Filmrolle, als Teil des Propagandawerks „Heroische Töchter und Söhne“, dass er in seinem Kino am selbigen Abend vorführen möchte. Die Probleme aber, sie reißen nach dieser Konfrontation nicht ab, denn der Rest des schwarz-weißen Kriegsfilms kommt nur beschädigt im Dorf an. 

Ein Motorschaden des Motorrads veranlasst den zurückgebliebenen Sohn (Rui Cao) des Kino-Onkels eine Pferde-Kutsche als Ersatztransport auszuprobieren. Eine Rolle aber, die Nr. 22, sie löst sich auf der ruckeligen Fahrt und schleift im Sandstaub hinterher. Ein Albtraum für den nach außen hin autoritären Kino-Onkel, der sich selbst für den besten Vorführer des Landes hält und dennoch Angst hat, bei dem kleinsten Fehler ersetzt zu werden. Noch schlimmer aber trifft es Zhang, der in der Nr. 22, einem Wochenschau-Bericht, seinen Lebensinhalt sieht. Denn seine von ihm entfremdete Tochter, eine angehende Studentin, hat darin einen Auftritt, der, man ahnt es, genau eine Sekunde andauert.

Der Ruf von Zhang Yimou, dem Regisseur der fünften Generation, hat in den letzten Jahren deutlich gelitten. Vorgeworfen wird ihm schon länger, dass er sich dem chinesischen Regime andienen würde, als Beispiel dafür wird immer auch seine staatstragend-opulente Inszenierung der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele herangezogen. Und auch sein Hang zum bildmächtigen Martial-Arts-Kino wie in Hero (2002) gilt vielen als Verrat an seinen Ursprüngen. Sprich an den kleinen, humanen Geschichten der 90er Jahre, die immer wieder auch die Zensur auf den Plan riefen. Eine Sekunde mag nicht der Beweis dafür sein, dass sich Yimou von der politischen Leitlinie Chinas endlich lossagt. Dafür ist die Kritik an der Obrigkeit, am Leiden unter Maos Schreckensherrschaft nicht hart, nicht offensiv genug. Und dennoch erscheint der eindrucksvoll bebilderte und gespielte Film für Yimou ein filmbiografischer Rückschritt, der sich wie ein künstlerischer Forstschritt anfühlt.

Als Yimou in seinen 20ern war, hat er es selber erlebt, das Kino als Happening. Diese eigene Erfahrung kann er dann auch in seinem Film einfühlsam und anrührend vermitteln. Der Kinoabend gleicht in Eine Sekunde einem Gottesdienst. Andächtig kommt das ganze Dorf für dieses Event zusammen, Klein und Groß, trägt Stühle von überall herbei und die verdreckte Filmrolle wie in einer Prozession vorsichtig in den umgebauten Kinosaal. Auch die Säuberungsaktion der Rollen inszeniert Yimou mit einem heiligen Ernst, der gleichsam bildmächtig wie poetisch ist. Denn das vorsichtige Putzen auf einer umfunktionierten Wäscheleine wird quasi als Film-im-Film-Schattenspiel auf die provisorische Leinwand projiziert.

Eine Sekunde lässt sich in seiner Feier des (analogen) Kinos als Ort der Begegnung, als Austausch, aber auch als gesellschaftliches Pulverfass durchaus als Warnung verstehen. Als Kulturgenuss, der verloren zu gehen droht, wenn die rituelle Handlung des Kinogangs keine Rolle mehr spielt und der vom Aussterben bedrohte Beruf des Filmvorführers, der für das Heben alter Filmschätze verantwortlich ist, verschwindet. Und das gibt diesem vordergründig leichten, nostalgischen Film eine Dringlichkeit, die ihn noch wichtiger, noch kraftvoller erscheinen lässt.

Quelle: www.kino-zeit.de/film-kritiken-trailer-streaming/eine-sekunde-2020