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Regisseur Sylvain George blickt in seinem monumentalen Dokumentarfilm in das abgründige Herz der europäischen Festung und gibt der Flucht Gesichter.

Obscure night - Goodbye here, anywhere (2023)

Eine Filmkritik von Sebastian Seidler

Vor den Zäunen gefangen

Während der drei Stunden, die sich Nuit Obscure Zeit nimmt, um sich seinen Protagonisten anzunähern, erschaudert man. Die immer wieder aufkeimende Forderung nach schnellerer Abschiebung, der immer irgendwie schiefe Begriff des Wirtschaftsflüchtlings – all diese politischen Vereinfachungen eines humanitären Scheiterns drängen sich unvermeidlich auf.

Was ist das, ein Flüchtling? Nein, anders: Wer ist das? In den Medien sehen wir die ewig gleichen Bilder, die aus den einzelnen Schicksalen entweder eine Masse machen oder mit bloßen Abziehbildern für kurzes Mitleid arbeiten. Was es aber wirklich bedeutet, vor den Mauern der europäischen Festung zu verharren, wird kaum noch vermittelt.

In Nuit Obscure wird der Fokus auf Malilla, die bekannte spanische Enklave in Marokko gelegt. Dahinter öffnet sich der Sehnsuchtskontinent Europa. Aber nur für jene, denen es gelingt, die streng bewachten Stacheldrahtzäune zu überwinden. Die Gruppe aus jugendlichen Protagonisten wird in diesem epischen Dokumentarfilm immer und immer wieder dagegen anrennen. Einmal wird einer der Jungen sagen, dass er all diese Zäune nicht mehr sehen könne. Oft bleiben die Flüchtlinge über Monate hinweg in der Stadt, suchen sich Schlafplätze in Höhlen und auf Bäumen, suchen in den Mülleimern nach essbaren Lebensmitteln. All das wird zu einer erschöpfenden Wiederholung.  

Es ist das Versprechen auf ein besseres Leben, das sie antreibt und auslaugt. Die Beweggründe zur Flucht werden erst spät im Film thematisiert. Marokko böte keine Perspektive, man müsse dort weg, wolle ein Leben haben. Würde man nur lange genug in einem Auffanglager hinter der Grenze ausharren, könne man in Europa arbeiten: Im Traum von einem besseren Leben ist Malilla nur eine Art Wartehalle.

Was Nuit Obscure zu einer derart intensiven Erfahrung werden lässt, das ist die Tatsache, dass Sylvain George, nichts erzwingt. Seine Kamera wird zum stummen Begleiter der Jungen, die dem Filmemacher zu vertrauen scheinen und sich nie an seiner Anwesenheit stören. Dadurch gelingen intime Bilder der Verzweiflung, von Hierarchiekämpfen und gegenseitiger Unterstützung – alle, wie für Sylvain George üblich, im schönsten Schwarz-Weiß. Der Verdacht der Ästhetisierung liegt nahe, zumal wirklich beeindruckende Aufnahmen gelingen, die an Porträtfotografie erinnern.

Mit diesen Bildern markiert der Film den Unterschied zu den Nachrichtenbildern und üblichen Reportagen: Es ist – auch wegen der langen Laufzeit – ein widerständiger Film, den man sich durchaus erarbeiten muss. Einfach macht es einem George wahrlich nicht. Er zwingt uns in eine Zeitlichkeit, die einzig von den Jungen bestimmt wird. In anderen Worten: Nuit Obscure schenkt einen Raum aus Zeit und individueller Dauer und zeigt dadurch, wie wichtig es ist, den Einzelnen nicht in einem bloß allgemeinen Problem technokratischer Ordnungspolitik untergehen zu lassen.

Obscure night - Goodbye here, anywhere (2023)

Melilla, die spanische Enklave in Marokko, bildet die Landgrenze zwischen dem afrikanischen Kontinent und Europa. Malik und seine Freunde, Minderjährige marokkanischer Herkunft, sind auf der Durchreise und versuchen, auf jede erdenkliche Weise nach Europa zu gelangen. Tagein, tagaus durchstreifen sie die Stadt, durchwandern so die Vergangenheit und die Gegenwart, nehmen jedes Risiko auf sich, um Zäune zu überwinden und auf Boote zu gelangen. Bleiben, als wären sie schon tot, bevor sie geboren wurden? Lieber das Risiko auf sich nehmen, als zu sterben, bevor man überhaupt gelebt hat.

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