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Margherita Vicario schreibt die Geschichte der Musik neu. In ihrem Kostümdrama, im 18. Jahrhundert nähe Venedig, kämpfen fünf Mädchen gegen das patriarchale System. Pop statt Klassik. 

Gloria! (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Die Neuerfindung der Musik

Buhrufe in der Pressevorführung; 15 Minuten Standing Ovation bei der Weltpremiere. Dabei ist „Gloria!“ gar nicht so kontrovers. Die italienische Pop-Sängerin Margherita Vicario hat ihre Musik hier verewigt. Das Jahr 1800, Venedig. Ein Waisenhaus besitzt eine klare Hierarchie. Während die einen die Gänge putzen müssen, haben die anderen ein etwas prestigeträchtigeres Leben, denn sie spielen im Kirchenorchester des Maestros Perlina (Paolo Rossi). Dieser ist vollkommen unfähig. Der 100-minütige Film ist ein intriganter Umsturz der patriarchalen Machtfigur. You Go, Girls!

Die Mädchengruppe, bestehend aus Lucia (Carlotta Gamba), Bettina (Veronica Lucchesi), Marietta (Maria Vittoria Dallasta) und Prudenza (Sara Mafodda), allesamt Waisen, spielt brav die klassischen Stücke des Maestros. Teresa (Galatéa Bellugi) wiederum sei untalentiert, es nicht einmal wert ein Instrument zu besitzen – laut Maestro Pelina. Plötzlich findet sie ein Klavier-Forte (was wir heutzutage einen Flügel nennen) im Keller des Waisenhauses. Jeden Abend werden die Mädchen dort jammen und ganz nebenbei den Jazz, Pop und Poetry-Slam erfinden. 

Zunächst einmal sollte gesagt sein, dass das musikalische Zusammenspiel der Gruppe in seinen besten Momenten wirklich berührend, sogar mitreißend sein kann. Jeder, der mal in einem Verbund Musik gemacht hat, wird den freien Fall dieser schöpferischen Anarchie und die Euphorie, wenn plötzlich Passagen zusammenpassen, kennen. Doch hat Gloria! vor allem etwas Unangenehmes, wenn Klassik als langweilige, unbelebte Musik zur Seite geworfen wird und die fünf Italienerinnen unter anderem den Jazz erfinden. Es folgen aufgesagte Texte, erst als Gedicht, dann als „Taylor’s Version“. Und so beginnt die Neuausrichtung des musikalischen Kompasses. Der Papst wird bald in die kleine Kirche der Mädchenbande kommen. Es ist die Chance seines Lebens für Maestro Pelina, eine eigene Komposition zu präsentieren. Doch das soll nicht gelingen. Klassik wird boykottiert, stattdessen wird eine Performance zwischen Reggae, amerikanischer Megachurch und Folk geliefert. 

Gloria! hat eine schöne Ästhetik. Die Szenenbilder sind stets an die Stille von Gemälden angelehnt. Manche Momente sind beleuchtet mit reinem Kerzenlicht, man denke an Barry Lyndon (1975), jedoch sind dies nur punktuelle Ausflüge, bevor es wieder zurück in eine konventionelle Welt geht. Selbiges gilt für die Filmmusik, auch wenn diese nicht klar vom Inhalt des Films zu trennen ist. Sie hat tolle Momente, in denen das Klavierexperiment durch das filmische-DJ-Pult direkt in den Soundtrack fließt. An anderen Stellen tönt die Konvention lauter als jedes Orchester. Die Montagen, die teils Intrigen, Selbstmord und Musik zusammenführen, haben rasches Tempo, und die Versatzstücke fügen sich gleichsam zur Einheit zusammen, doch kippen in ihrer Albernheit immer wieder in die Seifenoper. Figuren torkeln übereinander, stehen sich im Weg, während die Musik immer weiter anschwillt. 

Margherita Vicarios Film ist gefällig, will jedoch einen revolutionären Tonus anschlagen. Die Musik dient nicht nur als Metapher der Geschichtsneuschreibung, sondern reißt auch als Form das Publikum mit. Denkt man an Porträt einer jungen Frau in Flammen (2019), so gab es dort keine poppig-verdaulichen Bilder. Denkt man an Sisterhood (2023), so gab es dort keine Musik, die das Publikum zum Klatschen animieren will. Zwar wird die Klassik in die Ecke geworfen, in anderen Momenten möchte man sich aber dann ihrer sublimen Eigenschaften bedienen. Fans von Vicario werden aber sicherlich auf ihre Kosten kommen und manch einer sich in die fein inszenierten Bilder verlieben. Wer den großen Protest sucht, der hier versprochen wurde, geht allerdings leer aus.

Gloria! (2024)

1800 im Kollegium Sant Ignazio, einer alten, heruntergekommenen Musikschule für Mädchen, irgendwo in der Nähe von Venedig: Teresa, von allen nur „die Stumme“ genannt, widmet sich als einsame Magd den niedrigsten Verrichtungen. Niemand kennt ihren Namen, und niemand ahnt etwas von ihrem außergewöhnlichen Talent, das sie befähigt, die Harmonie des Universums zu erspüren und die Wirklichkeit durch Musik neu zu gestalten. Während sich im Kollegium alles um den bevorstehenden Besuch des frisch inthronisierten Papstes dreht und der alte Kapellmeister sich abmüht, eine neue Komposition für den Pontifex zu ersinnen, macht Teresa in der Abstellkammer eine Entdeckung: eine brandneue Erfindung, ein wunderschönes Instrument – ein Pianoforte. Um Teresa und die revolutionäre „Musikmaschine“ versammelt sich ein außergewöhnliches Quartett von jungen Frauen. Die besten und dynamischsten Musikerinnen von Sant Ignazio bilden eine geheime Zelle großer, aber übersehener Talente und bringen eine neue Musik hervor, die der Papst (und die Welt) sicher nicht erwartet hat … (Quelle: Berlinale) 

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Meinungen

wignanak-hp · 23.02.2024

Der schönste Film, den ich auf der Berlinale sehen durfte nach all den vor allem düsteren Bildern und manchen Albernheiten, die dort eigentlich nicht hingehören. Wenn die klassische Musik als weggeworfen angesehen wird, kann ich das nicht nachvollziehen. Sie ist hier immerhin die Musik der Unterdrücker weiblicher Kreativität. Sie wird der „neuen“ Musik, die Befreiung von Bevormundung bedeutet, gegenübergestellt, durchaus passend zum Rhythmus des Filmes. Und wer weiß, welche Richtung die Musikgeschichte genommen hätte, wäre die weibliche Kreativität nicht geleugnet und unterdrückt worden. Für mich ist der Film eine gelungene Utopie in der Vergangenheit, die zeigt, was vielleicht hätte sein können, natürlich mit einem Augenzwinkern.

Kasiopeia24 · 23.03.2024

Ich bin total einverstanden. Ich finde, dass das Augenzwinkern sich gegen die tiefen venezianische -und somit italienische- Werte und Institutionen richtet. Es wird angedeutet, dass Vivaldi und andere Komponisten nicht selbst ihre Werke geschaffen haben, sondern dass sie etwas von ihren Schülerinnen, die im Hintergrund und versteckt spielen und bleiben mussten, genommen haben. Es wird der dunklen Seite der Ospedali, in denen Waisen erzogen wurden, dargestellt.
Was der Film nicht darstellt sind Frauen, die sich für die Freiheit opfern. Aber von leidenden Frauen und Opfern hat genug die Geschichte. Ich freue mich, dass die Regisseurin nicht mitgemacht hat.