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Der Dokumentarfilm begleitet über Jahre hinweg eine US-Amerikanerin, die ihren Mann im Gefängnis heiratete und für seine Freilassung kämpft. Die New Yorkerin träumt vom Familienglück. Doch die Jahre vergehen, ohne dass sich ihre Hoffnung erfüllt.

For the Time Being (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Eine Liebe, stärker als der Knast

Das Telefonat, das Michelle Bastien-Archer in ihrem New Yorker Wohnzimmer mit Jermaine Archer führt, klingt wie unbeschwertes Geplänkel. Sie hat sich die Fingernägel lackiert, er fragt nach der Farbe, sie will sie nicht verraten, beide ziehen sich scherzend auf. Doch ihr Mann sitzt nicht etwa in der U-Bahn auf dem Weg nach Hause, sondern im Gefängnis Sing Sing. Das Paar hat 2007 auch dort geheiratet, nun steht der siebte Hochzeitstag bevor. Seit 1998 verbüßt Jermaine eine Haftstrafe von mindestens 22 Jahren bis lebenslänglich, wegen vorsätzlicher Tötung. Michelle kämpft unermüdlich für seine Freilassung. Sie sagt, dass er die Tat nicht begangen habe, und reicht nun einen Antrag mit neu aufgetauchten Belegen ein, wonach der einzige Zeuge von der Staatsanwaltschaft für seine Aussage bezahlt wurde. 

Für ihren ersten langen Dokumentarfilm, mit dem sie ihr Regiestudium an der Filmakademie Baden-Württemberg abschloss, hat Nele Dehnenkamp die Afroamerikanerin Michelle über einen Zeitraum von rund sieben Jahren mit der Kamera begleitet. Als ausgebildete Soziologin erforschte Dehnenkamp in den USA die Lebenswelt von Frauen mit einem inhaftiertem Partner. So lernte sie Michelle kennen, alleinerziehende Mutter zweier Kinder, die ihr Geld als Anstreicherin verdient. Die beiden Frauen verbindet mittlerweile eine Freundschaft.  

Den thematischen Hintergrund des Films bildet der strukturelle Rassismus der US-amerikanischen Gesellschaft und ihres Justizsystems. Unter den 1,6 Millionen Gefängnisinsassen sind überdurchschnittlich viele junge Afroamerikaner aus einkommensschwachen Verhältnissen. Des Öfteren hört und liest man von drakonischen Haftstrafen oder über häufige Fehlurteile. Wenig erfährt man in der Regel über die Frauen der Inhaftierten, die wichtige Beziehungsarbeit leisten und mit ihrem Durchhaltevermögen und ihrer Widerstandskraft über Jahre hinweg den Partner stützen. Michelle wurde im Kampf um Jermaines Freilassung zur Aktivistin, die auf Fehlurteile aufmerksam macht. Sie habe Jermaine vor seiner Inhaftierung nicht besonders gut gekannt, erzählt die Mutter zweier Kinder. Auch für diese beiden — Kaylea und Paul -, deren Vater selbst einem Mord zum Opfer fiel, habe sie sich eine intakte Familie gewünscht. 

Michelle erzählt offen von ihren Hoffnungen und Träumen, die immer wieder zerplatzen. Der eingereichte Antrag auf Haftaussetzung wird nicht bearbeitet, die Tage und Jahre vergehen mit der Routine aus Telefonaten mit Jermaine, Visiten im Gefängnis, den aufregenden und wie ein Urlaub minutiös vorbereiteten Besuchswochenenden, die alle drei Monate stattfinden dürfen. Dann schleppt Michelle Taschen voller Lebensmittel mit, denn sie will in der winzigen Unterkunft im Gefängnis, die sie und Jermaine für Stunden der Zweisamkeit bekommen, groß aufkochen. Bevor sie aus dem Auto vor dem Gefängnistor aussteigt, frischt sie stets voller Lampenfieber ihr Make-up auf. Wenn sie mit Jermaine telefoniert, lässt sie ihn freudig an ihrem Alltag teilhaben. Und sie redet über die Ausflüge und Reisen, die sie mit ihm in der Fantasie macht. Die Zeit vergeht, und manchmal zieht Michelles Alltag im Film in kurzen Szenen vorüber, die wie eine Diaschau montiert sind, einschließlich Klickgeräusch. 

Kaylea zieht nach dem Abitur in die Stadt, Paul zum Weiterstudieren nach Syracuse. Michelle sitzt allein am Frühstückstisch. Mit ihrer großen emotionalen Kraft, die ihr fast nie auszugehen scheint, ist Michelle der Anker und das Herz des ganzen Films. Im dramatischen Verlauf dieser Geschichte wird die Spannung an manchen Stellen fast atemberaubend. An dem Tag, an dem darüber entschieden wird, ob Jermaine auf Bewährung freikommt, folgt die Kamera Michelle durch alle Höhen und Tiefen, während sie vergeblich auf Nachricht wartet. Die Kamera ist auch dabei, als Michelle zum letzten Mal zum Gefängnis fährt und Tränen der Freude vergießen wird. In diesem gelungenen Film lässt sich viel über das Leben in den USA erfahren, in erster Linie ist er aber die bewegende Geschichte einer liebenden Frau.

For the Time Being (2023)

Michelle heiratete ihren Jugendfreund Jermaine im sterilen Besuchsraumeines Hochsicherheitsgefängnisses – in der Hoffnung, bald mit ihm in Freiheit leben zu können. Jermaine behauptet, zu Unrecht wegen Mordes verurteilt worden zu sein. Er verbüßt eine 22-jährige Haftstrafe im berüchtigten Sing Sing Gefängnis in der Nähe von New York. Jahrelang kämpft Michelle unermüdlich dafür, seine Unschuld zu beweisen, während sie sich gleichzeitig als alleinerziehende Mutter um ihre jugendlichen Kinder Paul und Kaylea kümmert. In einer zermürbenden Routine aus kurzen Telefonaten, Briefe schreiben und Besuchen in der Haftanstalt träumt sie von einem idyllischen Familienleben außerhalb der Gefängnismauern. Kurz bevor Paul und Kaylea in ihr eigenes Leben aufbrechen, wird ein neues Beweisstück in Jermaines Fallentdeckt, das ihre Hoffnung auf seine baldige Freilassung wieder aufleben lässt. Entstanden über fast eine Dekade hinweg zeichnet der Dokumentarfilm ein intimes Porträt weiblicher Widerstandskraft, inmitten des maroden US-amerikanischen Justizsystems.

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