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In „Fingernails“ wirft der griechische Filmemacher Christos Nikou seine Figuren in eine Welt, in der sie ihre Liebe zueinander mit einem kleinen körperlichen Opfer überprüfen können. Super Sache, oder?

Fingernails (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Es tut nur ein bisschen weh

Bonnie Tyler am Limit: „Once upon a time, I was falling in love / Now I’m only falling apart…“ Der Megahit Total Eclipse of the Heart donnert ungestüm aus dem Autoradio – und Anna (Jessie Buckley) singt beim Fahren semi-textsicher mit. Tja, wer kennt es nicht. Christos Nikou eröffnet seinen neuen Film „Fingernails“ mit einem Szenario, das uns allen vertraut sein dürfte. Wir schalten das Radio oder den Fernseher ein, öffnen ein Buch, legen eine Platte auf, gehen in die Oper, ins Theater oder ins Kino – und werden dabei prompt mit exorbitanten Gefühlen konfrontiert, die wir womöglich mit unseren eigenen abgleichen. Empfinden wir so feurig wie Bonnie? Und falls nicht, was sagt das wohl über uns und über unsere Beziehung aus?

Alsbald mischen sich in die Welt, die Nikou und seine beiden Co-Autoren Stavros Raptis und Sam Steiner erschaffen, kleine Irritationen. Von negativen und positiven Testergebnissen ist die Rede, wenn über Paarbeziehungen gesprochen wird. Leute tragen einen Verband am Finger, aber es scheint sehr persönlich zu sein, dies zu thematisieren. Erst allmählich begreifen wir, dass wir uns in einer alternativen Vergangenheit – vermutlich den späten 1990er Jahren – befinden, in der Handys und soziale Medien noch kein Teil des Alltags sind, es jedoch eine technische Innovation gibt, die vieles verändert.

Der leicht verschrobene Duncan (Luke Wilson) hat eine Maschine entwickelt, die durch die Untersuchung eines entnommenen Fingernagels angeblich feststellen kann, ob zwei Menschen tatsächlich ineinander verliebt sind. Null Prozent bedeutet dem Verfahren nach: gar keine Liebe. 50 Prozent soll auf eine einseitige Liebe hinweisen. Und 100 Prozent ist der (vermeintliche) ultimative Emotionsjackpot. Anna und ihr Freund Ryan (Jeremy Allen White) gehören zu den Glücklichen, denen die gegenseitige Liebe von Duncans Liebesinstitut nach erfolgreichem Test mit einem Zertifikat bescheinigt wurde.

Na dann – alles gut, Happy End, richtig? Nicht so ganz. Denn Anna spürt Zweifel. Das ist vielleicht auch der Grund, weshalb sie sich um eine Stelle in dem Institut bewirbt, ohne Ryan anfangs etwas davon zu verraten. Fortan arbeitet sie gemeinsam mit ihrem Kollegen Amir (Riz Ahmed) mit Paaren zusammen, die vor dem entscheidenden Test einige Übungen machen, um sich noch sicherer zu fühlen. Fragen beantworten, das (hoffentlich) geliebte Gegenüber mit verbundenen Augen am Geruch erkennen, als Einheit einen Fallschirmsprung wagen, das romantische Hugh-Grant-Œuvre zu zweit im Kinodunkel genießen. Also wenn das nicht hilft, gibt es wahrscheinlich eh nichts zu retten.

Der 1984 in Athen geborene Christos Nikou hat schon in seinem Langfilmdebüt Apples (2020) über eine Epidemie in Griechenland, die zu akutem Gedächtnisverlust führt, sein Faible und vor allem sein Können für surreale Stoffe demonstriert. Auch Fingernails entwirft absurde Situationen, die zuweilen an den überaus speziellen Kosmos von Charlie Kaufman, insbesondere an Vergiss mein nicht! (2004), erinnern. Die Integration einer einzelnen Neuschöpfung in die uns bekannte Wirklichkeit ähnelt zudem den Gedankenexperimenten in der britischen Anthologie-Serie Black Mirror. Es gelingt Nikou bei allem Irrwitz indes, dass das Geschehen stets nachvollziehbar bleibt.

Wenn die Methoden des Liebesinstituts präsentiert werden – etwa das Einspielen von Gewittergeräuschen im Firmengebäude, weil das doch irgendwie zum Kuscheln einlädt, oder das Karaoke-Singen von Schmachtsongs in französischer Sprache, die eben einfach erotischer ist als andere Sprachen –, dann setzt der Film in erster Linie auf das Bizarr-Groteske. Duncan arbeitet bei den Paarübungen gar mit schwachen Elektroschocks und mit simulierten Katastrophen, wie er einmal beiläufig erwähnt.

Wenn hingegen gezeigt wird, wie uns die Bewegungen eines Menschen beim enthemmten Tanzen zu Eighties-Knallern verzaubern, oder wenn uns vermittelt wird, wie wunderbar es sein kann, mal kurz das Lenkrad zu übernehmen, da sich die andere Person leider gerade um das blöde kaputte Autofenster kümmern muss (was selbstverständlich eine Metapher ist, hier aber zugleich ganz wörtlich vonstatten geht), dann schafft es Fingernails, auch mit kritischer Einstellung zu banalen Romantikideen durchaus selbst romantisch zu sein.

Gelegentlich greift das Skript auf dramaturgische Klischees zurück. Auf den Satz „Ich muss dir etwas sagen…“ folgt garantiert eine plötzliche Unterbrechung von außen, weshalb die dringende Beichte zunächst weggewischt wird, um sich später im ungünstigsten Augenblick Bahn zu brechen. Die langsam aufkeimende Dreieckskonstruktion zwischen Anna, Ryan und Amir wird allerdings erfreulich komplex geschildert – was nicht zuletzt daran liegt, dass Ryan, der von Anna infrage gestellte (und somit nach Hollywood-Regeln gewiss „falsche“) Partner, mit Jeremy Allen White sehr stark besetzt ist.

Anna versucht unter anderem, die allzu routinierte Beziehung zu Ryan mit einem Töpferkurs zu reanimieren – schließlich hat das bei Demi Moore und Patrick Swayze in Ghost – Nachricht von Sam (1990) doch auch so gut funktioniert. Leider ein Fehlschlag. Wenn Anna und Ryan wiederum gemeinsam unter die Dusche steigen, ist die Chemie zwischen den beiden immer noch deutlich zu spüren.

Fingernails ist kein Film, der es seinen Figuren und uns zu leicht machen will. Natürlich wäre es nett, wenn unsere Liebe kinoreif wäre. Gern würden wir von unserem ersten Kennenlernen bis zum langjährigen Bestehen unserer Beziehung alles so erzählen können, wie es sich kreative RomCom-Autor:innen ausdenken. Aber vielleicht liegen „falling in love“ und „falling apart“ letztlich gar nicht so weit auseinander. Und vielleicht hat diese Erkenntnis ja auch etwas Schönes.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

Fingernails (2023)

Anna und Ryan haben die wahre Liebe gefunden. Das wurde durch eine umstrittene neue Technologie bewiesen. Es gibt nur ein Problem: Anna ist sich immer noch nicht sicher. Dann nimmt sie eine Stelle in einem Liebestestinstitut an und lernt Amir kennen.

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