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In „153 Meter“ von Anton von Heiseler beobachtet eine ältere Frau eine jüngere im gegenüberliegenden Plattenbau. Eine Studie über Formen der unbequemen Intimität.

153 Meter (2022)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Parasoziales Beziehungsdrama

Voyeurismus und Stalking im Film – das war eines der ganz großen Themen des Regisseurs Alfred Hitchcock, in Werken wie „Das Fenster zum Hof“ (1954), „Vertigo“ (1958) und „Psycho“ (1960). Insbesondere von Brian De Palma wurde das Sujet später immer wieder aufgegriffen und variiert, am virtuosesten wohl in „Der Tod kommt zweimal“ (1984). Und auch in den folgenden Dekaden entstanden zahlreiche Filme, die Menschen beim heimlichen Beobachten, beim Eindringen in die Privatsphäre anderer zeigten, darunter der Thriller „One Hour Photo“ (2002) von Mark Romanek.

Was all diese Erzählungen verbindet, ist die Rolle des Blicks: Die Schauenden waren stets männlich. Wenn ein sexuelles Begehren mit im Spiel war, so war dies als heterosexuell gekennzeichnet. In 153 Meter, einer Produktion der Filmuniversität Babelsberg Konrad Wolf, geht der Blick nun von einer älteren Frau aus. Lana (Michaela Caspar) ist Hausmeisterin. Sie lebt mit ihrer pflegebedürftigen Mutter (Maria Luise Preuß) in einer kleinen, kargen Wohnung in einem Plattenbau in der Berliner Allee der Kosmonauten. Der Regisseur Anton von Heiseler, Jahrgang 1994, entwirft zusammen mit seinem Kameramann Lucas Heinze prägnante Bilder, um Lanas tristen Alltag einzufangen, in der Interaktion mit der Mutter oder beim Nachgehen beruflicher Verrichtungen, etwa mit dem Laubbläser auf dem Grundstück.

Und dann ist da diese junge Frau (Emilia von Heiseler) im Wohnblock gegenüber. Der Film beginnt bereits damit, dass wir uns aus weiter Ferne per Kamerazoom auf das Fenster zubewegen, in dem die Frau zu sehen ist – bis die grobkörnige Nachtaufnahme immer mehr zu einem befremdlichen Rauschen wird. Mit einer Videokamera betrachtet und belauert Lana die Nachbarin, meist in den Abendstunden. Oft imitiert die ältere Frau die Bewegungen der jüngeren, wodurch der Aufbau der parasozialen Beziehung visuell verdeutlicht wird.

Während etwa der von James Stewart gespielte Protagonist aus Vertigo durch seine einstige Tätigkeit als Polizist gewisse Vorteile bei der Beschattung einer Person hatte oder der von Robin Williams verkörperte Anti-Held in One Hour Photo durch seine Position als Fotoentwickler in einer Supermarktfiliale einen leichteren Zugang zu den privaten Momenten einer Familie erhielt, findet auch das Drehbuch zu 153 Meter, das der Regisseur zusammen mit Maximilian Rummel geschrieben hat, einen Weg, um es Lana zu ermöglichen, sich in die Welt ihres Objekts der Begierde einzuschleichen: Im Blaumann und mit Werkzeugkasten steht sie vor der Tür und behauptet, es gebe ein Problem im Badezimmer. Auslöser für Lanas aktives Eingreifen ist die plötzliche Anwesenheit eines Mannes (Lucas Lentes) in der Wohnung der jungen Frau. Es dauert indes nicht mehr lange, bis die Dinge – und damit die Rollenverteilung – gehörig durcheinandergewirbelt werden.

Im Plot des Films und in dessen Umsetzung stecken Elemente des Suspense-Kinos. In erster Linie ist 153 Meter jedoch eine Charakterstudie, die sich mit Intimität befasst – vor allem mit einer Form von Nähe, die rasch extrem unangenehm werden kann. Spannend ist dabei auch die Entscheidung des Castings: Die Theater-, Kino- und TV-erfahrene Schauspielerin Michaela Caspar ist tatsächlich die Tochter der 2022 verstorbenen Maria Luise Preuß – und Emilia von Heiseler, die als Frau von gegenüber auftritt, ist interessanterweise Caspars Tochter und obendrein die Zwillingsschwester von Anton von Heiseler. In einem Statement erklärt dieser, sein Werk habe zwar eine fiktive Handlung, trage jedoch dokumentarische Züge. Im Intimen, Schmerzhaften dieses Films steckt etwas spürbar Echtes – was 153 Meter zu einem der ungewöhnlichsten „Familienfilme“ macht, die wir uns vorstellen können.

153 Meter (2022)

Zwei gegenüberliegende Plattenbauten, drei Frauen, drei Generationen, eine Videokamera. Die Geschichte einer Obsession.
Die Hausmeisterin Lana teilt sich mit ihrer pflegebedürftigen Mutter eine kleine Wohnung. Sie beobachtet eine junge Frau im gegenüberliegenden Wohnblock durch eine Videokamera und baut in ihrer Phantasie eine intime Beziehung zu ihr auf. Als Lana das Glück ihrer neuen Freundin bedroht sieht, verlässt sie die Rolle der stillen Beobachterin und greift in das Geschehen ein. (Quelle: déjà-vu Film)

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