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Sie ist eine Ikone der Frauenbewegung, doch ihr Name spielt im öffentlichen Bewusstsein kaum eine Rolle: Helke Sander dreht Filme aus weiblicher Perspektive, weil Frauen eben andere Fragen stellen als Männer. Regiekollegin Claudia Richarz porträtiert sie so einfühlsam wie vielschichtig.

Helke Sander: Aufräumen (2023)

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Künstlerin und Kämpferin

„Haben Sie Schwierigkeiten damit, ein Mann zu sein?“ Auf solch unschuldige und doch recht verfängliche Fragen muss gefasst sein, wer der Filmemacherin Helke Sander vors Mikrophon läuft. Natürlich haben Frauen eine Menge Probleme, eben weil sie Frauen sind. Das war vor Jahrzehnten kaum anders als heute. Und die deutschen Männer, die jährlich 330.000 Frauen vergewaltigen? Denken die darüber nach, was es heißt, Angehöriger eines solchen Geschlechts zu sein? Würden sie zum Beispiel bei Nacht die Straßenseite wechseln, um der entgegenkommenden Frau die Angst zu nehmen? Dreimal darf man raten, wie die Antworten ausfallen in dem Filmausschnitt aus Helke Sanders „Die Deutschen und ihre Männer – Bericht aus Bonn“ (1989), den die Dokumentaristin Claudia Richarz in ihrem Porträt über eine Ikone der deutschen Frauenbewegung zitiert. Ebenso differenziert wie punktgenau zeichnet die jüngere Kollegin nach, wie Helke Sander es schaffte, ihre Fragen mit bewundernswerter Beharrlichkeit zu stellen. Und damit für alle Frauen ihrer Generation sowie die der jüngeren die Karten im Geschlechterspiel neu zu mischen.

Es ist schon erstaunlich, wie sehr die Filme von Helke Sander in Vergessenheit geraten sind, obwohl man den ein oder anderen gesehen hat, damals in den 1970er und 1980er Jahren. Immerhin gehörte die Regisseurin zu jenen, die Geschichte schrieben, weil sie zur richtigen Zeit am richtigen Ort waren, als Künstlerin und Aktivistin, wie etwa der viel bekanntere Rudi Dutschke oder der Filmemacher Alexander Kluge. 1966 zählte Helke Sander zum ersten Jahrgang der Deutschen Film- und Fernsehakademie, zwei Jahre später attackierte sie die linken Männer der Studentenbewegung mit dem „Aktionsrat zur Befreiung der Frauen“, was als Auftakt der bundesrepublikanischen Frauenbewegung gilt. Sie gründete die ersten Kinderläden sowie 1974 die erste feministische Filmzeitschrift „Frauen und Film“. 

Dass ihr im öffentlichen Bewusstsein nicht derselbe Rang zukommt wie den Männern der 68er Bewegung, sagt einiges aus über die Besetzung von Machtpositionen in Fördergremien und Fernsehanstalten, auch heute noch. Obwohl ihr Name in diesem Zusammenhang kaum fällt, geht die Tradition des autofiktionalen Erzählens ganz entscheidend auf Helke Sander zurück. „Ich benutze mich als Material“, sagt sie einmal in einem Interviewausschnitt. Denn die ausgebildete Schauspielerin, die in ihren semifiktionalen Filmen gern als Protagonistin auftritt, beschäftigt sich keineswegs nur mit den eigenen Erfahrungen. Sondern mit dem, was sie mit Millionen von Geschlechtsgenossinnen teilt: schlecht bezahlte Arbeit, miese Wohnung, Drei- bis Vierfachbelastung als Mutter, Berufstätige und Alleinerziehende. 

Im klugen Wechsel von Filmausschnitten, biografischen Details sowie älteren und aktuellen Gesprächen fokussiert sich Helke Sander: Aufräumen auf die Gründe, warum gerade aus Helke Sander eine Vorkämpferin für Frauenrechte wurde. Viel hat das mit ihrem Leben in Finnland zu tun, wo sie 1959 den Schriftsteller Markku Lahtela heiratete und ihren Sohn Silvo zur Welt brachte, der ebenfalls Autor ist. Dort konnte sie studieren, Theaterstücke inszenieren und beim Fernsehen arbeiten. Zurück in Deutschland, nach der Trennung von ihrem Mann, war plötzlich alles anders. Ein Hindernis türmte sich vor dem anderen. Die Männer, auch wenn sie nett und links waren, hatten altmodische Vorstellungen.

Dass jemand wie der finnische Schwiegervater seine Hemden selbst bügelte – Fehlanzeige. Für Filme von und für Frauen gab es kein oder wenig Geld. Alleinerziehende standen vor doppelten und dreifachen Schwierigkeiten. Trotzdem rang die Filmemacherin den Verhältnissen Arbeiten wie Die allseitig reduzierte Persönlichkeit – Redupers (1977) oder Der subjektive Faktor (1981) ab. 1992 kündigte Ulrich Wickert in den Tagesthemen Sanders Film BeFreier und Befreite über die Massenvergewaltigungen durch die Russen am Ende des Zweiten Weltkriegs mit den Worten an: „Ihn anzusehen, ist Pflicht“. Trotzdem konnte sie von ihrer Filmarbeit nicht leben. Von 1981 bis 2001 arbeitete sie als Professorin an der Hamburger Hochschule für bildende Künste.

Regisseurin Claudia Richarz beobachtet die inzwischen 87-Jährige beim Aufräumen. Das ist wörtlich gemeint, aber auch metaphorisch, als Bilanz eines Lebens. Die Kamera begleitet Helke Sander beim Besuch eines Bestatters, bei der Durchsicht alter Filmaufnahmen, beim Ausmustern von Kleidern. Aber vor allem lässt die Dokumentation ein ereignisreiches und erfahrungsgesättigtes Leben vor dem wirklichen und geistigen Auge vorüberziehen. Es ist wohl ein Glücksfall, einen Menschen gerade in solchen Momenten befragen zu dürfen. Schon in einem ihrer frühen Filme beschäftigte sich Helke Sander mit der Frage, was ein gelingendes Leben ausmacht. „Vor dem Einschlafen denke ich, dass aus Tagen wie diesen das Leben besteht“, sagt sie, während sie das Kopfkissen zurechtrückt. Und sinnt über die Punkte alltäglicher Ereignisse nach, die eine Linie ergeben, wenn man Glück hat und nicht alles sinnlos auseinanderfällt. Claudia Richarz verknüpft ebenso unaufdringlich wie leichtfüßig die roten Fäden im Leben von Helke Sander, in Verbeugung vor einer Frau, die gelernt hat, ihrer inneren Stimme zu folgen und sich von niemandem einschüchtern zu lassen. 

Helke Sander: Aufräumen (2023)

Die Filmemacherin und Autorin Helke Sander ist eine Ikone nicht nur der Frauenbewegung, sondern auch des neuen deutschen Films. Historische Umwälzungen brauchen manchmal nur einen kleinen Impuls, der die versteinerten Verhältnisse plötzlich in Bewegung bringt.

Helke Sander hat vor vielen Jahren eine solche erdrutschartige Veränderung in Deutschland ausgelöst. (Quelle: barnsteiner-film)

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