Rhino (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Aus dem kurzen Leben eines Prügelknaben

Oleg Sentsovs neuer Film feierte im September 2021 bei den 78. Internationalen Filmfestspielen von Venedig seine Weltpremiere. Als er dort in der Wettbewerbssektion Orizzonti konkurrierte, hatten der Film und sein Regisseur bereits eine unzumutbare Reise hinter sich. Wenn das Gangsterdrama etwas mehr als ein Jahr später nun in den deutschen Kinos startet, ist die Zukunft des ukrainischen Filmemachers ungewisser denn je.

Die Ungewissheit ist zentrales Thema in Sentsovs neuem Film. Der Protagonist wird in sie hineingeboren. Die Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken geht ihrem Ende entgegen. Das ist auch in dem übersichtlichen ukrainischen Häuschen zu spüren, in dem die Hauptfigur mit Mutter und zwei älteren Geschwistern aufwächst. Als in Berlin schließlich die Mauer fällt und sich der Eiserne Vorhang öffnet, sind die Behörden überfordert. Rechtsfreie Räume tun sich auf, die „Rhino“ (Serhii Filimonov) bereitwillig besetzt.

Der Spitzname des Protagonisten rührt von einer dicken Beule her, die an das Horn eines Rhinozerosses erinnert. Zugezogen hat er sie sich auf seinem illegalen Weg nach oben, der anfangs mit dem Kopf durch die Wand führt. Kindheit und Jugend hat „Rhino“ zu diesem Zeitpunkt bereits hinter sich. Sentsov handelt sie in einer meisterhaften Montagesequenz ab. Während Bogumil Godfrejóws Kamera durch die Zimmer der bescheidenen Behausung gleitet und Karolina Maciejewska mit unsichtbaren Schnitten den Eindruck erweckt, als sei alles in einer einzigen Einstellung gedreht worden, ziehen die Jahre vor den Augen des Kinopublikums vorüber.

Menschen kommen und gehen, Türen gehen auf und zu und schließen sich für immer. Der abwesende Vater kehrt heim, kommt vom Alkohol nicht los, schlägt seine Frau grün und blau und wird schließlich von der Polizei abgeholt. Die Schwester heiratet, verlässt ihr Elternhaus und steht eines Tages ohne Mann, aber mit Kleinkind auf dem Arm wieder auf der Schwelle. Der große Bruder zieht in den Afghanistan-Krieg, kommt unversehrt zurück und liegt irgendwann doch aufgebahrt im Wohnzimmer. Am Ende der mehrminütigen Sequenz ist aus dem Jüngsten im Bunde, einem anfangs schmächtigen Jungen, der von seinen Schulkameraden auf offener Straße verprügelt wird, ein durchtainierter Erwachsener geworden, der andere mit seinen Fäusten das Fürchten lehrt.

Die Ausgangslage des Geprügelten, der den Spieß umdreht, erinnert an einen anderen Film, der im Herbst 2022 in den deutschen Kinos startet: Fatih Akins Rheingold (über das Leben des Gangsterrappers Xatar). Im Gegensatz dazu knöpft sich Oleg Sentsov aber weder das Leben einer bekannten Persönlichkeit vor, noch ist bei ihm Humor zu finden. Das Prügeln und Morden ist bei Sentsov eine ausgesprochen unappetitliche Angelegenheit. Selbst Orgien im Dampfbad inszeniert er als derbes Vergnügen, das nicht zur Nachahmung einlädt. Wie bei seinem deutschen Kollegen ist aber auch Sentsovs Hauptfigur überhöht.

Sentsov setzt auf christliche Symbolik. Nach der meisterhaften Exposition wird die Handlung aus einer langen Rückblende heraus erzählt. „Rhino“ sitzt mit einem Fremden (Evhen Chernykov) in einem Auto, das unter einer Trauerweide steht. Deren sich im Wind wiegenden Äste spiegeln sich in den Scheiben. Wem der Protagonist hier sein erst 32 Jahre währendes Leben beichtet, bleibt offen. Ist es ein weiterer Verbrecher? Ist es der Tod? Ist es Gott?

Auf jeden Fall ist es eine Erlösungsgeschichte, die Sentsov hier erzählt. „Rhinos“ Umkehr erfolgt, als er dem Tod als zur Hälfte Gekreuzigter gerade noch von der Schippe springt. Sein Ende gleicht schließlich dem des heiligen Sebastian.

Inwiefern der Regisseur und Drehbuchautor sich selbst in seinem Protagonisten wiedererkennt, ist nicht bekannt. Ein langes Martyrium hat er zumindest hinter sich. Die Produktion von Rhino begann bereits 2013, wurde dann jedoch unterbrochen, weil Sentsov sich erst den Maidan-Protesten anschloss und dann gegen Russlands Annexion der Krim stellte und dafür ins Gefängnis ging. Noch aus der Haft heraus inszenierte er dank der Mithilfe seines Co-Regisseurs Akhtem Seitablaev seinen Film Die Zahlen, der 2020 bei der Berlinale uraufgeführt wurde. Nach einem Hungerstreik, den er beinahe mit dem Leben bezahlte, kam er 2019 durch einen Gefangenenaustausch frei und konnte die Arbeit an Rhino wieder aufnehmen.

Inzwischen hat die Realität unerbittlich zugeschlagen. Die Ungewissheit, in die die Länder des Ostblocks nach der Wende geworfen wurden, ist kein Vergleich mit der Ungewissheit eines Krieges. Nachdem Russland am 24. Februar 2022 die Ukraine angegriffen hat, trat Oleg Sentsov den Verteidigungseinheiten der ukrainischen Streitkräfte bei. Ob er weiter Filme drehen wird, scheint so offen wie der Kriegsausgang.

Rhino (2021)

Ukraine der 1990er Jahre. Ein junger Mann mit dem Spitznamen “Rhino” beginnt als einfacher Dieb und arbeitet sich schnell in der kriminellen Hierarchie nach oben. Rhino hat bisher nur Macht und Grausamkeit gekannt. Aber könnte er, der nichts mehr zu verlieren hat, endlich eine Chance auf Erlösung finden? (Quelle: Maja.de)

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