Barfuß auf Nacktschnecken

Eine Filmkritik von Peter Gutting

Ganz normal verrückt

Zugegeben, der Filmtitel klingt nach Ekel, vielleicht sogar Horror. Doch keine Angst, Barfuß auf Nacktschnecken ist ein sommerleichtes, märchenhaftes, in manchen Strecken heftiges Drama über eine ungewöhnliche junge Frau und ihre nicht minder wandlungsfähige Schwester. Die Geschichte ist so phantasievoll und verrückt, dass sie einen Überraschungserfolg an der Kinokasse mehr als verdient hat.
Regisseurin Fabienne Berthaud gestaltet ihren zweiten langen Kinofilm als Hommage an die Figur der altersmäßig schwer einzuschätzenden, vielleicht Anfang 20-jährigen Lily (Ludivine Sagnier). Die ausgesprochen gefühlsbetonte, oft kindliche Frau passt in keine Schublade. „Sie ist nicht ganz dicht“, heißt es einmal über sie. Das stimmt in gewisser Hinsicht, dann aber auch wieder nicht. Klar ist nur, dass Lily jemanden braucht, der auf sie aufpasst. Als ihre Mutter ganz plötzlich stirbt, ist Lilys ältere Schwester Clara (Diane Kruger) gefragt. Die kümmert sich zunächst mehr aus Pflichtbewusstsein um den unberechenbaren Wildfang. Aber durch die Konflikte mit der gnadenlos ehrlichen Lily entdeckt auch die angepasste Clara eine freiheitsliebende Seite in sich. Das stellt ihre Ehe mit dem biederen Pierre (Denis Ménochet) auf eine Zerreißprobe.

Schon in ihrem Erstling Frankie bewies Fabienne Berthaud, dass sie ein Händchen für Grenzerfahrungen hat. Damals ging es um ein Model, das dem Druck der Schönheitsindustrie nicht mehr gewachsen ist und in der Psychiatrie landet. Auch in Barfuß auf Nacktschnecken erkundet die Regisseurin Gefühle und Handlungen, die man als „jenseits der Normalität“ beschreiben könnte. Aber das Bewundernswerte ist, dass sie jegliche Psychiatrisierung vermeidet. Sie zeigt Lily, so wie sie ist, ohne Urteil, mit viel Sympathie, aber ohne Verklärung. Denn Lily ist anders. Sie liebt die Natur, umgibt sich mit allerlei Tieren und macht aus deren Fell, wenn sie gestorben sind, kleine kunsthandwerkliche Gegenstände, vorzugsweise Pantoffeln. Lily lebt ihre Gefühle so direkt aus wie ein Kind, ist aber zugleich eine erwachsene Frau, die ihr Recht auf Sexualität mit aller Unbefangenheit einfordert. Auch sonst sagt sie jedem die Meinung ungeschönt ins Gesicht, vor allem, wenn sie jemanden nicht leiden kann.

Ludivine Sagnier meistert mit dieser Rolle eine große Herausforderung. Sie taucht mit ihrer ganzen Körpersprache tief in kindliche Gefühle ein, lässt aber nie den Eindruck zu, ihre Figur sei einfach nur zurückgeblieben oder geistig behindert. Mit jeder ihrer Gesten lässt sie die ureigene Logik spüren, nach der jemand funktioniert, der ganz in seinen Bedürfnissen aufgeht und keine Rücksicht darauf nimmt, was die anderen von ihm denken.

Dass aus den gegensätzlichen Frauen am Ende „zwei verrückte Schwestern“ werden, wie die Leute glauben, ist genauso das Verdienst von Diane Kruger. Sie legt die vernünftige Clara von Anfang an so an, dass man auch das Unglück spürt, das aus der Selbstkontrolle erwächst. Und so wirkt es ebenso wundersam wie glaubwürdig, wenn Clara irgendwann die Rolle wechselt und nur noch in den Tag hineinlebt, während sich Lily um den Lebensunterhalt dieses Dreamteams kümmert. Aber das ist nur eine von vielen witzigen Wendungen. Wenn dieser Film im Mai startet, können die Frühsommergefühle beginnen.

Barfuß auf Nacktschnecken

Zugegeben, der Filmtitel klingt nach Ekel, vielleicht sogar Horror. Doch keine Angst, „Barfuß auf Nacktschnecken“ ist ein sommerleichtes, märchenhaftes, in manchen Strecken heftiges Drama über eine ungewöhnliche junge Frau und ihre nicht minder wandlungsfähige Schwester. Die Geschichte ist so phantasievoll und verrückt, dass sie einen Überraschungserfolg an der Kinokasse mehr als verdient hat.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Rene · 03.06.2012

Unbedingt ansehen

Isabelle · 23.06.2011

Ich war ziemlich skeptisch, ob der Film was taugt. Aber im Kino war ich dann positiv überrascht. Es ist wirklich ein tragischer aber auch komischer Film. Diane Kruger hat mir am besten gefallen, obwohl ich überhaupt kein Fan von ihr davor war.