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Ein Büffel entkommt am Rande eines indischen Dorfs seinem Schlachter und die männlichen Bewohner steigern sich auf der Suche nach dem Tier in einen regelrechten Jagdrausch. Der zivilisationskritische Actionfilm des Regisseurs Lijo Jose Pellissery wartet mit dynamisch gefilmten Massenszenen auf.

Zorn der Bestien - Jallikattu (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Im kollektiven Rausch der Jagd

Der Fleischverkäufer Kalan Varkey (Chemban Vinod Jose) macht in einem südindischen Dorf gute Geschäfte. Doch eines Nachts entkommt ein Büffelbulle Varkeys Schlachtung am Waldrand und richtet auf seiner Flucht einigen Schaden an. Lautsprecherdurchsagen aus einem fahrenden Auto warnen die Bewohner*innen. Die Männer aus dem Dorf und der näheren Umgebung wollen den Büffel einfangen, doch das wütende Tier entkommt ihnen. Sie rufen den Schmuggler Kuttachan (Sabumon Abdusamad) zu Hilfe, der von seinem Gewehr Gebrauch machen soll. Als es scheint, dass der Bulle in der Falle sitzt, reklamiert jedoch Kuttachans Rivale Antony (Antony Varghese) die Beute für sich. Die wachsende Menschenmenge verwandelt sich im Rausch der kollektiven Jagd in eine wilde Horde.

Der Actionfilm des Regisseurs Lijo Jose Pellissery fällt mit seinen rauschhaften Massenszenen aus dem Rahmen der gewohnten Kinokost. Die Oscar-Einreichung Indiens 2020 erinnert daran, dass die Schicht der Zivilisation dünn und unter Umständen schnell abgestreift ist. Darin ähnelt der Film von ferne William Goldings Roman Herr der Fliegen, nur dass es sich hier um erwachsene Männer handelt und sie ihr Tun mit der Jagd auf eine „Bestie“, wie sie den Büffel nennen, legitimieren. S. Hareesh, der gemeinsam mit R. Jayakumar das Drehbuch verfasste, adaptierte dafür seine eigene Kurzgeschichte Maoist.

Einmal stellt ein alter Mann infrage, dass die wahren Bestien die Vierbeiner sind. Er erzählt, dass die ganze Gegend den Tieren gehörte, als er als Kind mit seinem Vater hierherkam und das Dorf entstand. Sollte der Bulle Rache üben wollen an der Menschheit? Schon in Agnieszka Hollands Die Spur, der auf dem Roman Der Gesang der Fledermäuse der Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk basierte, klopfte der Gedanke eines vermeintlichen Rachefeldzugs der Tierwelt an das schlechte Gewissen eines für ökologischen Wertewandel empfänglich gewordenen Publikums an.

Auch in Pellisserys Film wird nach und nach deutlicher, dass die Bestie ein von Menschen geschaffener Begriff ist, für ein Tier, das buchstäblich bis aufs Blut gereizt wurde und um sein Leben rennt. Natürlich wird ihm auch jede Eskalation, jeder Schaden und jeder Verletzte zur Last gelegt. Der zu Anfang des Films erklärte Begriff Jallikattu – eine traditionelle Bullenhatz – wird quasi in satirischer Absicht verwendet für eine ungeplante Action, die vollkommen aus dem Ruder läuft. Schon früh sieht man in der nur scheinbar harmonischen Dorfgemeinschaft Aggressionen ausbrechen. Ein Mann schlägt seine Frau, auf der Straße gehen Gruppen im Streit aufeinander los, sogar die Polizei wird einmal von einer verärgerten Menge attackiert. Im Schutze der Jagd auf den Bullen wird irgendwann auch ein mörderischer Kampf zweier Männer ausgefochten werden. Und gegen Ende mündet die kollektive Entfesselung in Szenen, die denen einer Massenpanik gleichen.

Die Szenen der Bullenjagd sind visuell beeindruckend gestaltet, zumal viele von ihnen in der nächtlichen Dunkelheit stattfinden, im Schein unzähliger Fackeln oder Stirnlampen. Besondere Bedeutung kommt der kreativen Tonspur zu. Die Laute des Waldes vermengen sich mit schnarrenden, schrillen Klängen. Dass hier nicht nur zum Halali, sondern auch zum archaischen Kampf geblasen wird, kündigen schon die ersten Percussioneinsätze an, in deren Rhythmus Bilder im Sekundentakt wechseln: Gesichter, eine abendliche Schlachtung, schreitende Füße, die Toilette der Männer am Morgen. Jäh, überraschend, erklingt während der Jagd manchmal ein kollektiver Ruf, etwa ein „Hu!“, gefolgt von einem Chor männlicher Stimmen, der Trance-Rituale von Urwaldkriegern zu imitieren scheint. Auch weibliche Stimmen sind zu hören, die zu einer Art Hexengeschrei anschwellen.

Die in den männlichen Charakteren dieses spektakulären Films geweckten Instinkte steuern auf das Chaos zu, als wäre dieses ihre eigentliche Bestimmung. Der Ruf der Wildnis, den diese Figuren aus ihrem Inneren vernehmen, ist dabei jedoch nur noch das verzerrte Echo einer Naturverbundenheit, die ihnen längst abhanden gekommen ist.

Zorn der Bestien - Jallikattu (2019)

In einem Dorf in der tiefsten indischen Provinz ist ein mehrere Tonnen schwerer Wiederkäuer entlaufen und pflügt sich durch die Ortschaft, die Wiesen und Felder. Das können Dutzende menschliche Zuchtbullen in der Gegend natürlich nicht auf sich sitzen lassen. So machen sie sich auf die Jagd, bei der es schnell nicht mehr darum zu gehen scheint, das entlaufene Tier zu erlegen, sondern vielmehr darum, als das potenteste Alphamännchen der Provinz aus der ganzen Sache rauszukommen. (Quelle: Shivers Filmfestival 2021)

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