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Angesichts des Kriegs in der Ukraine, der Anfang Februar 2023 fast ein Jahr tobt, geraten andere Konflikte in den Hintergrund. In ihrem Dokumentarfilm rücken Stéphane Malterre und Garance Le Caisne einen beinahe vergessenen Krieg in den Fokus.

The Lost Souls of Syria (2022)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Codename Caesar

Die Geschichte klingt wie ein grauenerregender Krimi: Ein Fotograf, der im Dienst eines brutalen Regimes dessen Verbrechen mit der Kamera dokumentiert, wird von seinem Gewissen gepackt. Stets mit einem Auge über die Schulter schielend, schmuggelt er mithilfe eines Bekannten Beweise außer Landes: eine Festplatte voller Fotos, die er tagtäglich schießen muss. Darauf zu sehen sind Tausende zu Tode gefolterte Gefangene. Stéphane Malterres und Garance Le Caisses Dokumentarfilm erzählt, wie es dazu kam – und wie zwei Anwältinnen alle Hebel in Bewegung setzen, diese Verbrechen gegen die Menschlichkeit vor Gericht zu bringen.

Die Aufmerksamkeitsspanne sinkt nicht erst seit Youtube und TikTok. Den Fokus ihrer Nutzer:innen beständig zu verschieben, ist Medien inhärent. Schließlich geht es darum, Neuigkeiten zu verkaufen. Und bekanntlich ist nichts so alt wie die Zeitung von gestern. Da verwundert es kaum, wie wenig wir mittlerweile vom Bürgerkrieg in Syrien medial vermittelt bekommen. Zynisch gesprochen, dauert all das schlicht und einfach schon viel zu lange an, um allabendlich noch jemanden vor den Fernseher zu locken. Andere Konflikte wie die Proteste im Iran (wenngleich auch diese medial unterrepräsentiert sind) und Russlands Angriffskrieg in der Ukraine sind an dessen Stelle getreten. Derweil drohen die in Syrien verübten Verbrechen, dem Vergessen anheimzufallen. Nicht zuletzt dem arbeitet Malterres und Le Caisnes Dokumentarfilm entgegen.

Im Zentrum steht zunächst der Fotograf, der die Beweise gesammelt und der Weltöffentlichkeit zugänglich gemacht hat. Weil sein Leben bedroht ist, tritt er nur mit Maske, verfremdeter Stimme und unter dem Codenamen Caesar auf. Auch sein Bekannter, der ehemalige Ingenieur Sami, der Caesar half und inzwischen in Istanbul lebt, ist nur verkleidet und zudem nur von hinten zu sehen. Wie in so vielen vergleichbaren Dokumentarfilmen aus der jüngeren Vergangenheit, die sich mit dem Verhältnis von Verbrechen, Macht und (neuen) Medien auseinandersetzen – The Cleaners (2018) oder The Dissident (2020) kommen einem in den Sinn – mutet auch dieser stellenweise mehr wie ein Thriller denn wie ein Dokumentarfilm an. Doch der spannungsgeladene politische Part ist nur ein Teil des Puzzles. Der andere setzt sich aus juristischen Anstrengungen und Abnutzungserscheinungen zusammen, die nicht minder spannend und zugleich zutiefst frustrierend sind.

Wäre die Welt ein einfacher Ort, deren Institutionen tadellos funktionierten, dann wären dieser Dokumentarfilm und die darin abgebildeten Anstrengungen nicht nötig. Die von Caesar gesammelten Beweise sind der Weltöffentlichkeit bereits seit 2014 bekannt. Und die Weltöffentlichkeit blieb nicht untätig. Noch im selben Jahr versuchte der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen (UN) eine Resolution zu verabschieden, die ein strafrechtliches Vorgehen gegen das Regime Baschar al-Assads ermöglicht hätte. Doch wie zu erwarten war, legten zwei Nationen ihr Veto ein. Im Grunde ist es überflüssig zu erwähnen, dass die Gegenstimmen aus Russland und China kamen. Despoten decken Despoten. Das ist der Lauf der Welt. Zum Glück marschieren jedoch nicht alle im Gleichschritt mit.

Hier kommen die Angehörigen der Opfer und deren Rechtsvertretungen ins Spiel. In Spanien versucht die internationale Menschenrechtsanwältin Almudena Bernabeu, in Frankreich die Anwältin Clémence Bectarte, die Fälle vor Gericht zu bringen und so eine Handhabe gegen Baschar al-Assad und dessen Terrorregime zu erlangen. Möglich ist dies nur, weil einige der Opfer und deren Angehörige eine doppelte Staatsbürgerschaft besitzen. Im Gegensatz zu all den übrigen Verschleppten und Ermordeten, deren Zahl wohl in die Hunderttausende geht, steht ihnen somit auch außerhalb Syriens der Rechtsweg offen – was freilich nicht heißt, dass die spanische und französische Justiz das genauso sieht.

The Lost Souls of Syria ist ein Film, der auf mehreren Ebenen Aufklärungsarbeit leistet: Er macht klar, mit welcher menschenverachtenden Brutalität, Rücksichtslosigkeit und Willkür Baschar al-Assad gegen das eigene Volk vorgeht und wie blauäugig und schlecht vorbereitet mancher Journalist dem Machthaber begegnet; er macht klar, wie langsam, kompliziert und politisch verwickelt die Mühlen der Justiz mitunter mahlen und er macht sich stark dafür, die Opfer und deren Angehörige nicht zu vergessen.

Mehr als ein Jahrzehnt dauert der Krieg in Syrien inzwischen an. Ob Baschar al-Assad jemals vor ein Gericht gestellt werden wird, ist ungewiss. Die Grundlage dafür ist nicht zuletzt dank der „Caesar-Akten“ zumindest gelegt.

The Lost Souls of Syria (2022)

27.000 Fotos von zu Tode gefolterten zivilen Gefangenen wurden von einem militärischen Überläufer mit dem Codenamen Caesar aus den Geheimarchiven des syrischen Regimes gestohlen und öffentlich gemacht. Beweise, aussagekräftiger als das, was man gegen die Nazis in Nürnberg in der Hand hatte. Regisseur Stéphane Malterre und Ko-Autorin und Fachberaterin Garance Le Caisne untersuchten, inwieweit sich die internationale Justiz als unfähig erweist, den kriminellen syrischen Staat zu verfolgen. Da der Fall zum Vergessen verurteilt zu sein scheint, geben Angehörige der Opfer, Aktivist*innen und Caesar nicht auf. Auf eigene Faust suchen sie vor nationalen Gerichten in Europa weiter nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Ihr Kampf und ihre über fünf Jahre aus beispielloser Nähe gefilmten Ermittlungen werden schließlich zum ersten Prozess gegen hohe Beamte der syrischen Todesmaschinerie führen.

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