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Eine Welt voll widersprüchlicher Gefühle – ein niederländischer Sommerferienfilm, entspannt und leicht und ohne Angst.

Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess (2019)

Eine Filmkritik von Rochus Wolff

Besser wäre nur noch die seltsame Woche mit Sam

„Bist du bereit für ein paar neue Erinnerungen?“ Es dauert eine ganze Weile, bis Sam (Sonny van Utteren) diese Frage stellt, und bis dahin ist sehr viel passiert in der einen Woche seines Lebens, die er hier auf der Ferieninsel mit seinen Eltern und seinem großen Bruder verbringt. Und mit Tess (Josephine Arendsen), oder auch nicht, denn eigentlich will er sich ja im Alleinsein trainieren, jeden Tag ein wenig mehr und länger. Denn schließlich, das glaubt er verstanden zu haben, ist er der Jüngste in seiner Familie und wird also als letzter sterben, wenn kein anderer mehr da ist. Zeit also, sich jetzt schon darin zu üben – und wo wäre das besser möglich als hier, in den weiten Dünen direkt vor dem schmatzenden Watt?

Aus den Niederlanden kommen eh schon immer wieder ganz herausragende Kinderfilme, und Steven Wouterloods Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess schreibt sich sehr leichtfüßig in diese inoffizielle Tradition ein; und es lässt sich zumindest erahnen, warum das so ist. Der Film hält sich nämlich gar nicht damit auf, in den klaren Zuständen und Unterschieden des Lebens und Zusammenlebens ein Problem zu sehen. Sam ist mit Vater und Mutter unterwegs, die Mutter hat immer wieder Migräne, der Bruder nimmt den jüngeren nicht wirklich ernst; Tess‘ Mutter hingegen ist alleinerziehend, aber das ist zunächst einmal einfach ein Dasein wie andere auch.

Wirklich allein ist hier niemand, auch wenn Sam sich in diesen Zustand hineinphantasiert; immer mal wieder sieht man ihn von oben, allein auf dem Strand liegend, während er aus dem Off über Tod und Einsamkeit nachdenkt; aber dann schleichen sich eben doch Figuren rechts und links rein, sonnenbadend oder Ball spielend. Sams Bruder bricht sich einen Knöchel, weil er in das Loch fällt, das Sam vorher noch als Grab nutzte; er flucht dann reichlich und immer wieder über sein Schicksal, aber der jungen Fischverkäuferin fällt er doch und womöglich genau wegen des Gipsbeins auf …

Der Film steckt voll solch falscher Fährten, er ist im Grunde eine einzige Lektion darin, seinen ersten Eindrücken und Überzeugungen bloß nicht zu weit zu folgen, ohne wenigstens auch einmal die andere Richtung ausprobiert zu haben. Außer dieser einen: Sams Impuls, an Tess‘ Gartenzaun stehenzubleiben, ist jedenfalls der richtige. Innerhalb von Sekunden unterhalten sie sich über Zebrafische und andere Fische („Heringe pupsen zur Kommunikation!“), kurz darauf hat sie den erstaunten Jungen rekrutiert, weil sie einen Tanzpartner braucht, um per Internetvideos Salsaschritte zu erlernen.

Das klappt erstaunlich gut und je länger der Film dauert, desto besser ergänzen sich die Schritte immer wieder, auch wenn es manchmal knirscht zwischen dem impulsiven Mädchen und dem doch etwas träge reagierenden Sam. Das zeigt sich auch im Spiel: In Arendsens Gesicht ist immerzu etwas in Bewegung und seien es nur feinste Veränderungen der Mimik; van Utteren hingegen wirkt oftmals fast steif, immer verzögert, und es ist nicht ganz klar, ob das gekonnt ist oder großartiges Casting.

Das Geheimnis, in das Tess den „Mini-Touristen“, wie ihre Mutter Sam freundlich-triezend nennt, schließlich einweiht: Sie hat heimlich und mit einer kleinen Recherche den Mann ausfindig gemacht, den sie für ihren Vater hält – und ihn heimlich mit seiner Freundin im Ferienhaus einquartiert, das ihre Mutter vermietet. Tess will ihn kennenlernen, bevor sie entscheidet, ob sie ihn mit der Wahrheit konfrontieren möchte; aber natürlich sind die Erwartungen hoch und der fremde, aber freundliche Mann (Johannes Kienast) verhält sich dann vielleicht doch nicht so, wie sie es gern hätte.

Es ist eine Freude, dabei zuzusehen, wie ernst Wouterlood seine Titelheldin nimmt, mit ihren Sorgen und Überreaktionen, wie gelassen er bei seinen kindlichen, fast schon jugendlichen Figuren eigenen Willen, eigene Gründe und eigene Charaktere zulässt – das ist alles weder bemüht noch verdruckst und weniger noch, nämlich gar nicht, werden die Figuren für Pointen gemolken. Zugleich verwundert es umso mehr, dass Tess nicht auch die de-facto Protagonistin von Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess ist. 

Denn ostentativ bleibt die Kamera viel mehr bei Sam, dreht sich die Erzählung – auch in seinem Off-Kommentar – mehr um ihn und vor allem um das, was er in dieser Ferienwoche lernt. Sein Verstehen erscheint allerdings im Vergleich zu Tess‘ Erfahrungen doch eher sehr indirekt und vermittelt, mehr intellektuell verstanden als wirklich erfahren. Und vielleicht ist das umso ärgerlicher, weil der Film dadurch strukturell seine weibliche Hauptfigur in den Hintergrund rückt, die zugleich durch eine Handlung von Sam noch in ihrer Entscheidungsfreiheit beschnitten wird.

In einer schwierigen, entscheidenden Situation setzt sich der Junge, wenngleich in bester Absicht, über eine vorher von Tess sehr deutlich gesetzte Grenze hinwegsetzt. Seine Handlung hat direkte Folgen vor allem für Tess – sein Übergriff wird von der Filmhandlung im Nachhinein aber auch noch als richtig validiert. So sehr dieses Szenario im konkreten Fall auch realistisch wirken mag – der Film zeigt, für die ganze restliche Geschichte völlig untypisch, hier Restspuren einer Haltung, in der Jungs und Männer Mädchen und Frauen zu ihrem Glück mit Nachdruck hinbewegen dürfen – auch wenn diese das so nicht möchten.

Für die Geschichte wäre das nicht nötig, für Sam wäre es die größere, die wichtigere Lektion gewesen: Dass Männlichkeit und Menschlichkeit nicht darin bestehen kann, anderen sein eigenes Verständnis der Welt aufzuzwingen. Und für Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess ist es dieser narrative Twist sehr schade: Weil der Film in allen Szenen deutlich zu verstehen gab, dass er versteht, wie komplex, widersprüchlich, wunderschön und angstmachend menschliche Gefühle sein können.

Meine wunderbar seltsame Woche mit Tess (2019)

Als Jüngster der Familie ist Sam von dem Gedanken getrieben, eines Tages als einzig Überlebender allein zurückbleiben. Auf einem Familienurlaub am Strand begegnet er der unkonventionellen Tess, die ihre eigenen Geheimnisse mit sich herumträgt und ihm zeigt, dass die Gegenwart über Erinnerungen und Zukunftsängste triumphieren kann.

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Meinungen

Michael Praschma · 20.08.2021

Die Kritik in den letzten beiden Absätzen ist völlig deplatziert. Denn erstens ignoriert sie die Autonomie des Geschehens – kein Drehbuch muss glücklicherweise als moralische Lehranstalt fungieren, nicht einmal, wenn es um die Serlbstbestimmung eines Mädchens geht. Und zweitens übergeht Rochus Wolff geflissentlich, dass Tess den Film über ganz überwiegend die Zügel des Miteinanders fest in der Hand hat und mit Sam mehr oder weniger macht, was sie will. Dass Sam am Schluss einmal (!) etwas wirklich gegen ihren erklärten Willen macht, ist ihm, anders als hier postuliert, hoch anzurechnen. Der Junge, nicht nur das Mädchen, hat was drauf!

Hartmann · 03.09.2020

Guten Tag, Sam ist der Protagonist, es ist "seine" Geschichte.
MfG