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Carlos Vermut zeigt die Bemühungen eines jungen Pädophilen um ein normales Leben. Mit perfiden, aber größtenteils klugen Mitteln erzeugt er Unbehagen im Zuschauerraum.

Manticore (2022)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Produktives Unbehagen

Das spanische Kino hat 2022 mehrere unbehagliche Filme wie „Piggy“ oder „The Beasts“ hervorgebracht. „Manticore“ dürfte aber der unbehaglichste sein. Regisseur Carlos Vermut zeigt einen Ausschnitt aus dem Leben eines jungen Introvertierten mit pädophiler Neigung, vor allem seine Beziehung mit einer erwachsenen Frau und seine Bemühungen um ein normales Leben. „Manticore“ ist Vermuts vierter Film und hatte seine Weltpremiere beim Filmfestival Toronto.

Carlos Vermut ist ein Comiczeichner, der über die Arbeit an einer Animationsserie zum Kino fand. Sein Durchbruch in internationale Festival-Programme gelang 2014, als er in San Sebástian gleich zwei Hauptpreise gewinnen konnte. Magical Girl, ein Neo-Noir-Film über ein leukämiekrankes Mädchen, eine psychisch kranke Femme Fatale und ein Kleid aus einer Anime-Serie, wurde als bester Film und für die beste Regie ausgezeichnet. Auch in Manticore spielen sowohl Krankheiten als auch das Animieren eine Rolle.

Ein Mantikor ist ein Mischwesen aus persischen Sagen. Es hat den Körper eines Löwen, den stachelbesetzten Schwanz eines Skorpions und ein menschenähnliches Gesicht. Das Wort Mantikor bedeutet im Altpersischen „Menschenfresser“. Der Film Manticore dagegen beschäftigt sich mit Pädophilie, einer Störung der Sexualpräferenz, für die Betroffene zunächst einmal nichts können. Sie ist nicht mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern, der Pädosexualität, gleichzusetzen. In der öffentlichen Diskussion werden diese Begriffe oft nicht ausreichend abgegrenzt. Einen Menschen mit pädophiler Neigung als Monster mit menschlichem Gesicht zu beschreiben, wäre fragwürdig. Der Film lässt aber verschiedene Deutungen des Titels zu.

Hauptfigur Julián (Nacho Sánchez) ist Videospiel-Designer. Um genau zu sein, entwirft er Monster. Menschen finde er schwierig, sagt er einmal, wegen der realen Vorbilder. Der Film beginnt mit einer Aufnahme dessen, was Julián durch seine VR-Brille sieht – einer dreidimensionalen Modellierung einer raubkatzenartigen Kreatur. In der zweiten Szene des Films vollbringt Julián erstaunlich mühelos die Heldentat, den Nachbarsjungen vor einem Feuer zu retten. Im anschließenden Gespräch der beiden erzählt Julián, dass er als Kind nicht Feuerwehrmann oder Eistester, sondern Löwe werden wollte. Das Animalische ist also in Manticore nicht eindeutig negativ konnotiert.

Julián führt ein zurückgezogenes und wortkarges Leben, so als wären die Menschen um ihn herum NPCs — non-playable characters, also computergesteuerte Figuren in Videospielen. „In Videospielen kann man machen, was man will“, sagt er einmal. Im echten Leben dagegen scheinen Sozialängste seine Handlungsmöglichkeiten einzuschränken. Auch seine Heldentat führt nicht etwa zu erhöhtem Selbstbewusstsein, sondern im Gegenteil zu Panikattacken und Errektionsproblemen. Diverse mehr und weniger subtile Hinweise lassen klar werden: Julián ist sich seiner Pädophilie bewusst geworden. Nun macht er eine Ausnahme davon, keine Menschen zu designen. Er zeichnet einen Jungen, den er in einem Café sieht. Anschließend sieht man in einer langen Einstellung, wie er die Zeichnung zuhause weiterverarbeitet. Der Blick durch die VR-Brille bleibt diesmal aber aus, das Modell für die Zuschauenden unsichtbar. Dann masturbiert Julián.

Der Junge im Café sieht Kristina ähnlich, einer erwachsenen Frau mit kurzem Haar und kindlichem Gesicht, die Julián über eine Kollegin kennenlernt. Der Großteil des Films erzählt nun oberflächlich eine konventionelle, sogar charmante Liebesgeschichte. Beide Figuren haben eine professionelle Faszination mit dem Morbiden: Sie ist Kunststudentin und in einer Szene vor Francisco Goyas Schwarzen Gemälden im Museo Prado in Madrid zu sehen. Kristina repräsentiert für Julián die Chance auf eine funktionierende Beziehung mit einer erwachsenen Frau, die Chance auf Zuneigung und ein normales Leben. Gleichzeitig schwebt über der Liebesgeschichte zu jeder Zeit die Vermutung, dass Julián sie auf Grund des Kindchenschemas fetischisiert.

Manticore behandelt die Pädophilie ambivalent und stellt nach bester mäeutischer Methode offene Fragen: Entsteht das Unbehagen im Zuschauerraum, weil der Film einfühlsam Juliáns psychisches Leid zeigt, oder doch, weil er mitunter wie ein Prädator inszeniert ist? Vor allem die beiden Sexszenen des Films sind auffällig unheimlich inszeniert: quälend langsam gespielt, bei natürlichem Licht (lies: vor allem Schatten).

Die letzten Szenen des Films sind leider deutlich weniger nuanciert. Julián muss, so scheint es, körperlich unschädlich gemacht werden, und im Anschluss daran wird Kristina auch noch eine Obsession mit körperlich invaliden Männern zugeschrieben. Das ist eine Idee zu viel. Über den Großteil der Laufzeit ist Manticore aber klug und perfide: Der Film verwendet die Mittel des Liebesfilms, macht sie aber durch die Hinweise auf Juliáns Pädophilie schwer genießbar. Wie in einem guten psychologischen Horrorfilm entsteht das Unbehagen zwischen den Zeilen und ist ein produktives Unbehagen.

Manticore (2022)

Julián (Nacho Sánchez) arbeitet zurückgezogen am Laptop im Homeoffice. Er entwirft Monster und andere Kreaturen für Videospiele. Als er unvermittelt bei einem Brand eingreift und das Leben eines Jungen rettet, gerät sein eigenes zunehmend aus den Fugen. Die Liaison mit der Studentin Diana (Zoe Stein) soll ihm Stabilität geben. Die Rettung in ein gewöhnliches Leben scheint nah. Doch zunehmend wird Juliáns Selbstdarstellung infrage gestellt. Längst ist eine Spirale in Gang, die ihn in den Abgrund zu ziehen droht. (Quelle: IFFMH 2022)

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