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Ein Ehepaar ohne Kinder organisiert sich einen Strichjungen für eine absurde Inszenierung: Er spielt den Sohn, den sie nicht hatten, von der Geburt bis ins Kindesalter…

All the Guests Have Left (Miniserie, 2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Ballade von Scumfuck Speedy

Vier Teile hat diese Miniserie, insgesamt 90 Minuten; man kann, man sollte die Folgen spielfilmartig nacheinander sehen, zumal sie nicht durch spannungsgeladene Cliffhanger verbunden sind, sondern als stetiger Abwärtsstrudel daherkommen, als Spirale aus der Einsamkeit in die Leere. „All the Guests Have Left“ ist ein Low-Budget-Projekt und allein deshalb schon ungewöhnlich, zumal im Programm eines Streaming-Majors – 2000 Euro hat das Projekt gekostet. Vor der Kamera agiert auch Kiez-Zuhältergröße Klaus Barkowsky in einer skurrilen Nebenrolle als Zwei-Pfennig-Prinz, und Ex-Staatsanwalt-Nazijäger und Schlingensief-Veteran Dietrich Kuhlbrodt ist Erzähler dieser traurigen Ballade über das Leben von Scumfuck Speedy.

Scumfuck Speedy (Kalin Heidinger) ist die Hauptperson in diesem Film, aber kaum in seinem wirklichen Leben. Sein Spitzname, da ist er sicher, stammt daher, dass er jedes Drecksgeschäft schneller erledigt als andere – ein Kiez-Kompliment, meint er. Sein Onkel Helmut (Lars Nagel) muss ihn erst darüber aufklären, dass es eher bedeutet, dass er ungefähr alles fickt, was da rumkreucht, und dass er dazu noch zu schnell kommt. Dann zwingt er ihn in die Prostitution, mit freundlichen, familiären Worten: Nicht als Strafe, sondern als Ausbildung soll er das sehen, als Sprungbrett für höhere Ambitionen!

In einer Rückblende wird uns diese Backstory hingebrettert. Die erste Folge wirkt dramaturgisch krude, mit der Ballade in Reimform, die Kuhlbrodt in kurzen Hosen und Fischerhut auf dem Sofa vorträgt, dem Backflash auf Helmuts Angebot/Befehl, die Hosen runterzulassen, und mit den Jetztzeit-Szenen um Mutter (Karime Vakilzadeh) und Vater (Charles Rettinghaus), mit denen alles anfängt und alles enden wird. Die Mutter ist hysterisch verzweifelt, der Vater muss sie, zur Beruhigung natürlich, erstmal ohrfeigen, dann trösten. Scumfuck, in seinem ersten Auftreten im Film, steht rum, wartet auf Kunden, und der Vater fragt ihn aus. Scumfuck macht alles, Natursekt aber nur donnerstags und mittwochs – und dann erleben wir, wofür Scumfuck ausgewählt wurde: Es kommt zur bizarren Inszenierung einer Geburtsszene; die erste Folge endet mit der Ratlosigkeit des Zuschauers, der wissen will, was das nun alles soll…

Zwischen Kiezporträt, fiesem Humor, Porträt eines Verlorenen und Charakterisierung isolierter Individuen zieht Regisseur und Drehbuchautor Dion Schumann die Schrauben immer enger, lässt uns immer tiefer hineinsinken in Scumfucks Schicksal, der sich seinem Los nolens, aber irgendwie auch volens hingibt. Ein Prostitutionsauftrag der anderen Art: Das Elternpaar, dem der Kindersegen immer verwehrt blieb, engagiert Scumfuck aus der Gosse, um mit ihm die Szenen des Aufwachsens nachzuspielen, ein Re-Enactment eines nie erlebten Sohnes, vom Säugling übers Kleinkind bis zum aufgeweckten Jungen. Mutter und Vater spielen mit ihm, der noch nicht laufen kann, füttern ihn mit Brei, wickeln ihn, erleben die ersten Worte, dann läuft Kind Scumfuck durch die Wohnung und durchs Trotzalter, dann geht er mit Papa im Kinder-Matrosenanzug spazieren…

Scumfuck verliert sich in dieser Rolle, die er gleichzeitig hasst. Er verachtet die „Eltern“, die sich weniger und weniger ans Verabredete halten, die immer weniger Ausweg bieten, seine Rolle zu verlassen. Onkel Helmut bestärkt ihn zum Weitermachen – da kommt ja gutes Geld rein! Erzähler Kuhlbrodt scheint selbst verwundert über diese Entwicklung – später mal wird Mama ein Kasperltheater aufführen, mit einer Kuhlbrodt-Puppe, die die Ballade von Scumfuck vorträgt. Das ist Teil davon, dass untergründig, hinter dem Psycho-Horror, die böse Komödie des Lebens lauert, makaber und absurd. Als es Speedy zu unheimlich wird, besorgt er sich Pistolen, bei Zwei-Pfennig-Prinz, ein weiterer Auftritt in dieser Serie, der das Bizarre mit dem Ergreifenden verbindet.

All the Guests Have Left verleugnet nie, ein Corona-Projekt zu sein: Das drückt sich aus im Thema der Einsamkeit, die die Menschen auf ganz unterschiedliche Weise zum Äußersten treibt, wie auch in der Produktion. In den Filmszenen sind kaum mehr als drei Personen zu sehen, die Schauplätze sind verlassen, die Einschränkungen der Seuche korrespondieren kongenial mit den Einschränkungen, die ein kleines Filmbudget mit sich bringt; beide verlangen Kreativität. All the Guests Have Left, die Scumfuck-Ballade von einem, der unten ist und noch tiefer sinkt, erschafft aus Wenigem etwas Packendes.

All the Guests Have Left (Miniserie, 2023)

„All the guests have left“ erzählt in Vignetten aus dem Leben des jungen Strichers Scumfuck Speedy (Kalin Heidinger), der für seinen Onkel (Lars Nagel) anschaffen gehen muss. Als er von einem älteren Ehepaar (Charles Rettinghaus & Karim Vakilzadeh) angeheuert wird, deren Kinderwunsch sich nicht erfüllt hat, findet er sich in einer alptraumhaften Inszenierung wieder. In verschiedenen Passagen muss er immer wieder in das Leben ihres niegeborenen Neugeborenen eintauchen. Zunehmend verliert er sich in der Rolle.

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