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Es muss nicht immer der klassische Jakobsweg sein: Auch die Landschaften Englands lassen sich durchwandern, so weit die Füße tragen. In dieser Verfilmung des Romans von Rachel Joyce geht ein Rentner auf Wanderung, um sich zu einer alten, fast vergessenen Freundschaft zu bekennen.

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein Rentner tritt hinaus ins Leben

Eigentlich wollte Harold Fry (Jim Broadbent) nur einen Brief aufgeben. An seine ehemalige Kollegin Queenie (Linda Bassett), die ihm geschrieben hat, dass sie in einem Hospiz im Sterben liegt und sich von ihm verabschiedet. Doch auf dem Weg zum Briefkasten beschließt der Rentner, einfach loszumarschieren, die ganzen 1010 Kilometer von Kingsbridge im Südwesten Englands bis zu ihr nach Berwick-upon-Tweed im Norden. Dass seine Frau Maureen (Penelope Wilton) zuhause ahnungslos auf ihn wartet, scheint ihm in diesem Moment egal zu sein. Aus einer Telefonzelle ruft er im Hospiz an. Man solle Queenie ausrichten: „Ich werde laufen und sie muss weiterleben!

Harold macht keinen dementen Eindruck, allenfalls wirkt er etwas unsicher und unbeholfen. Aber es ist schon eine Zumutung für den logischen Verstand, die einem der Film (ebenso wie seine Vorlage) da gleich zu Anfang serviert. Ein alter Mann beschließt aus heiterem Himmel auf dem Weg zu einer kleinen Besorgung, das Land zu durchqueren, in den Halbschuhen, die er trägt, ohne Gepäck, Proviant und ohne sich von der Frau, mit der er fast ein Leben lang verheiratet ist, zu verabschieden. Jim Broadbent jedoch spielt diesen Charakter so geerdet, so gefestigt in der Unscheinbarkeit, die der beigen Farbe seiner Jacke entspricht, dass sich jeder Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit rasch verzieht. Harold tut, was er tun muss und er nimmt seinen gesunden britischen Menschenverstand mit. Zu diesem gehört eine Portion reservierter Skepsis gegenüber der Außenwelt, gepaart mit pragmatischer und höflicher Gelassenheit.

Wer sich auf eine Pilgerreise begibt, zum Beispiel auf dem spanischen Jakobsweg, hält Zwiesprache mit sich selbst, vielleicht mit Gott, hat etwas zu verarbeiten. David Lynch ließ in Eine wahre Geschichte – The Straight Story einen alten Mann auf seinem Traktor eine weite Reise zu seinem Bruder machen. Es gibt Bindungen, die jahrzehntelang schlafen können und plötzlich eine große Sehnsucht, etwas Versäumtes nachzuholen, in Gang setzen. Die Regisseurin Hettie Macdonald (Die erste Liebe) und die Drehbuchautorin Rachel Joyce, die ihren gleichnamigen Roman adaptiert hat, nehmen das Publikum in die Pflicht. Es muss sich den ganzen Weg über einen eigenen Reim bilden zu Harolds wahren Motiven und ihn immer wieder anpassen an neue Erkenntnisse.

Queenie, sagt Harold einmal, soll wissen, dass er sie nicht noch einmal enttäuschen werde. Dass er auf dem Weg zu ihr ist, soll sie stärken in ihrem Kampf gegen den Krebs, sie vielleicht sogar retten. Man erfährt lange nicht, was es mit dieser Queenie auf sich hat und auch weitere Rückblenden, die Harolds Erinnerungen folgen, geben jeweils nur wenig preis. Die Pilgerreise ist auch ein Ausbruch aus einem festgefahrenen Ehealltag. Im tadellos aufgeräumten Zuhause bricht für Gattin Maureen jegliches Gefühl von Sicherheit weg, als sie erfährt, was Harold vorhat. So kennt sie ihn nicht, das sieht ihm doch nicht ähnlich! In ihrer ratlosen, eifersüchtigen Empörung rennt sie zum Nachbarn Rex (Joseph Mydell), der besonnen versucht, sie zu beruhigen. Penelope Wilton spielt die aufgewühlte Maureen, die ja ebenfalls gezwungen wird, sich auf eine emotionale Reise zu begeben, hervorragend.

Die englische Landschaft bietet nichts Spektakuläres, weder bei Sonne noch bei Regen. Harold schläft im Freien, trifft ab und zu auf Menschen, die ihm helfen und dankbar sind, wenn er ihnen zuhört. Dann schließt sich ihm ein junger Mann (Daniel Frogson) an, der von einer überwundenen Sucht und einem göttlichen Zeichen erzählt. Er scheint Harold an seinen eigenen, entfremdeten Sohn (Earl Cave) zu erinnern. Eine wachsende Gefolgschaft schließt sich Harold an, über den Zeitungen und das Fernsehen berichten. Die bunte Truppe will ein Zeichen setzen, für die Hoffnung, die Mitmenschlichkeit oder vielleicht auch nur gegen die Langeweile. Spät offenbart sich dann das wahre Ausmaß des Dramas, das Harold mit sich schleppt, und es nimmt einem fast den Atem. Ohne dass darüber Worte verloren werden, liegt auf einmal auch die Leistung offen zutage, die in seiner Ehe steckt. Dieses sehenswerte Drama kommt wie sein Held Harold auf leisen Sohlen daher, erweist sich aber als überraschend tiefgründig.

Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry (2023)

In „Die unwahrscheinliche Pilgerreise des Harold Fry“ begibt sich ein Rentner (Jim Broadbent) auf einen über 1000 Kilometer langen Fußmarsch, um einer sterbenskranken Freundin beizustehen und ihr Mut zu machen — und tritt damit eine Reise an, in deren Verlauf er sich selbst völlig neu entdeckt.

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