Luft (2017)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Die Veräußerlichung der innersten Gefühle

Der Anfang: Ein Wald. Eine wilde, maskierte Person. Hirsche. Ein Jäger. Eine kleine, wohlplatzierte Explosion. Das Wild flieht, und der Jäger ist seine Beute los. Die Maskierte stößt auf der Flucht mit einem Mädchen, Manja, zusammen, sie purzeln übereinander, Manjas Brille zerbricht, und die schöne Blonde, die ihre Maske abgezogen hat und engelsgleich erscheint, setzt einen flüchtigen Kuss auf Manjas Mund: Sie ist Louk, von Manjas Schule, und Manja schaut ihr fasziniert und entrückt nach. Anatol Schusters Luft beginnt rasant und dynamisch – was sich im weiteren Verlauf leider nicht fortsetzt.

Wir folgen nun Manja. Deren Brille ist nicht einmal Marke Kassengestell – eher Marke Eigenbau anno Großvaterszeiten. Sie wohnt in einer engen Wohnung, die Großmutter spricht nur kasachisch, die Mutter schimpft über den Vater und die Männer allgemein, weil sie sitzengelassen wurde; in der Ecke sitzt jemand und spielt typischerweise melancholische Musik, das ist die ältere Schwester mit dem Akkordeon, das sie nie aus der Hand legt. Damit ist alles schon gesagt über Manja und die Familie. Denn leider sind das alles ziemlich fantasielos konzipierte Klischeegestalten, und sie bergen nichts weiter als das, was wir hier sehen. Dementsprechend überraschungslos geht es weiter, wenn sich Luft in eine Art Highschool-Drama entwickelt.

An der Schule ist Manja natürlich Außenseiterin und wird von den Mitschülern gemobbt. Louk ist die Königin ihrer Clique, weil sie so furchtlos ist; sie legt sich gar mit den männlichen Schulbullys an! Manja traut sich was, geht auf Louk zu, die hat im Wald ihre Mütze verloren, damals, bei diesem Kuss, an dem alles hängt … Louk lächelt. Und sie kündigt eine Mutprobe an für abends, da will sie sich unter einen Zug legen.

Damit sind die Verhältnisse klar: Manja und Louk werden sich näherkommen, erstmal nicht sexuell, sondern emotional, und dafür braucht der Film eine ganze Weile. Und eine Menge verlorener, melancholischer Blicke in die Ferne, die er immer wieder seinen Figuren abverlangt. Das wirkt beinahe rührend in der Naivität, mit der hier inszeniert wurde: Die Veräußerlichung der innersten Gefühle durch Blicke, die aber leider gerade wegen ihrer Überstrapaziertheit sogar kitschig wirken. Und dabei geht wenig vorwärts, kaum die Handlung, kaum die Charakterentwicklung.

Das liegt natürlich am Thema des Films: Die Introvertiertheit von Manja und die Extrovertiertheit von Louk sind Ergebnisse der Vergangenheit, die sie gefangen hält. Louks Mutter ist ins Meer gegangen; Manjas Vater hat die Familie verlassen. Der Umgang mit diesen Traumata bestimmt das Leben der Hinterbliebenen, zwischen Schuld und Wut. Und Schuld und Wut vererben sich auf die Kinder: Gefühle werden übertragen, von den Eltern her, und sie blockieren die Kinder, provozieren sie, führen zu übermäßiger Anpassung und zu übermäßiger Rebellion. Ein Thema ist das, aus dem sich vieles machen lässt – das in Luft aber nicht wirklich in seiner Tiefe ausgelotet wird.

Keine Lügen, keine Angst, keine Spuren: Das ist das Motto von Louk, die ganz im Jetzt leben will, die nichts hinterlassen will. Manja wiederum hört Geschichten der Großmutter, von Engeln, die helfen, und Engeln, die gefallen sind. Abends trifft sich die Dorfjugend in einem alten Lokschuppen, hängt rum, einer kommuniziert in HipHop-Reimen, Louk knutscht, Manja guckt und spürt Eifersucht. Irgendwann wird der Film zum Roadmovie, und wenn Manja und Louk unterwegs sind nach Frankreich, zum Atlantik, dann kommt auch der Film in Fahrt. Das Ende ist nahe, beide wollen im Meer verschwinden, und hier kommt auch die lange vermisste Dynamik ins Spiel, wenn Manja das Heft (und den Mofalenker) in die Hand nimmt. Der Film kommt hier zu sich – leider zu spät.
 

Luft (2017)

Der Anfang: Ein Wald. Eine wilde, maskierte Person. Hirsche. Ein Jäger. Eine kleine, wohlplatzierte Explosion. Das Wild flieht, und der Jäger ist seine Beute los. Die Maskierte stößt auf der Flucht mit einem Mädchen, Manja, zusammen, sie purzeln übereinander, Manjas Brille zerbricht, und die schöne Blonde, die ihre Maske abgezogen hat und engelsgleich erscheint, setzt einen flüchtigen Kuss auf Manjas Mund: Sie ist Louk, von Manjas Schule, und Manja schaut ihr fasziniert und entrückt nach.

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