Der Wert des Menschen (2015)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Im Würgegriff der Marktwirtschaft

51 Jahre alt, seit 20 Monaten arbeitslos und fest im Würgegriff der Bürokratie, die vorgeblich versucht, Menschen wie ihn wieder in Lohn und Brot zu bringen, sich aber in der Realität viel häufiger als ausgeklügeltes System der feinmaschigen Kontrolle und Verwaltung von hoffnungslosen Fällen erweist: Der brave Familienvater und gelernte Maschinist Thierry (Vincent Lindon) kämpft mit Verbissenheit gegen sein Schicksal an und schafft es tatsächlich nach einer wahren Odyssee durch den Verwaltungsapparat, wieder in Lohn und Brot zu kommen. Doch bald schon steht er in seinem neuen Job als Kaufhausdetektiv vor einem moralischen Dilemma, bei dem er sich mit der Frage konfrontiert sieht, ob er bereit ist, sich den Gesetzen des Marktes unterzuordnen und dafür seine Ideale und Werte zu verraten.

In scheinbar alltäglichen und beiläufig aneinandergereihten Szenen entfaltet der französische Regisseur Stéphane Brizé die Biographie eines Langzeitarbeitslosen, wie sie typisch ist für unsere Zeit. Dabei verzichtet der Film weitgehend auf Dramatisierungen und emotionale Höhen und Tiefen, sondern bleibt im Status eines mitfühlenden, dokumentierenden Beobachters, der ganz normalen Menschen bei ihrem ganz normalen Leben zuschaut. Der eigentliche Reiz des Films besteht in seiner ungeheuren Verknappung und Verdichtung und darin, dass er sein Anliegen keiner gängigen Dramaturgie unterordnet, sondern versucht, seine Spannung vor allem aus dem Innenleben seines Protagonisten und dessen moralischem Dilemma zu erschaffen. Es ist gerade so, also wolle der Regisseur uns damit signalisieren, dass ihm dieses Thema, diese Botschaft zu wichtig ist, um sie mit Tricks und Kniffen gewaltsam auf Spannungsbögen und Plot Points zu trimmen. Wenn man so will, bildet Der Wert des Menschen in dieser Hinsicht einen stillen Akt des Widerstandes gegen die gängigen Gesetze des (Film)Marktes.

Wie ernst Stéphane Brizé sein Anliegen nimmt, kann man auch an der Art und Weise der Inszenierung sehen, die nur vordergründig schmucklos und karg ist. Gedreht mit kleinem Team und bewusst schmal gehaltenem Budget erweist sich die produktionsseitige Beschränkung als weiterer logischer Schritt zu einem Gesamtkonzept, das durch Knappheit zum eigentlichen, zutiefst humanistischen Kern der Geschichte vordringt. Das erinnert nicht zufällig an das Kino der Brüder Dardenne, an die Dogma95-Bewegung und an die Haltung des Cinéma Verité, die ebenfalls durch bewussten Verzicht zu einer tieferen Wahrheit, zu präziseren Einsichten in die Seele des Menschen gelangen wollten. Der stolpernde Rhythmus der Montage, die zahlreichen halbnahen Einstellungsgrößen, die kargen Sets und der Verzicht auf dramatisierende und emotionalisierende Musik stellen sich allesamt bedingungslos in den Dienst der Geschichte und ihrer Charaktere.

Und dann ist da noch Vincent Lindon, der für seine schauspielerische Leistung in Stéphane Brizés Sozialdrama völlig zurecht beim Filmfestival in Cannes mit der Palme als bester männlicher Hauptdarstellern ausgezeichnet wurde. Begleitet von einem Ensemble, das zum überwiegenden Teil aus Laien besteht, ist er das Gesicht einer Krise, die Frankreich derzeit längst fest im Griff hat. Die Falten seiner sowieso schon zerfurchten Physiognomie scheinen hier noch tiefer zu sein, es sind Abgründe und Schluchten der Entbehrung und Frustration. Seine Augen verraten, dass dieser Mann die Enttäuschung über das Leben, das er sich anders vorgestellt hat, gerne mal mit einem Glas Rotwein (oder auch zwei) hinunterspült. Und doch gibt er nicht auf, kämpft seinen absurden Kampf weiter und versucht dabei, sich selbst treu zu bleiben.

Stéphane Brizé hat mit Der Wert des Menschen ein Denkmal geschaffen für all die Menschen, die im Namen des Fortschritts und des gnadenlosen Wachstums auf der Strecke zu bleiben drohen, die Abgehängten der Gesellschaft, die sonst nur als Zahlen in Arbeitslosenstatistiken auftauchen. Dem Gesetz des Marktes (so lautet der französische Originaltitel) setzt er andere Prinzipien entgegen: das der Anständigkeit und Solidarität der nur scheinbar „kleinen Leute“. Es ist nicht nur gut, sondern überlebenswichtig, dass wir an ihre bloße Existenz und enorme Wichtigkeit für den Zusammenhalt einer Gesellschaft wieder einmal erinnert werden. Denn sollten wir jemals alles Tun und Handeln und unser gesamtes Verhalten der eiskalt berechnenden Logik der Märkte überlassen, dann sind wir rettungslos verloren. Insofern schafft es Der Wert des Menschen auf beeindruckende Weise, zugleich zeitlos und brandaktuell zu sein.
 

Der Wert des Menschen (2015)

51 Jahre alt, seit 20 Monaten arbeitslos und fest im Würgegriff der Bürokratie, die vorgeblich versucht, Menschen wie ihn wieder in Lohn und Brot zu bringen, sich aber in der Realität viel häufiger als ausgeklügeltes System der feinmaschigen Kontrolle und Verwaltung von hoffnungslosen Fällen erweist: Der brave Familienvater und gelernte Maschinist Thierry (Vincent Lindon) kämpft mit Verbissenheit gegen sein Schicksal an und schafft es tatsächlich nach einer wahren Odyssee durch den Verwaltungsapparat, wieder in Lohn und Brot zu kommen.

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Meinungen

Martin Zopick · 25.05.2022

Der deutsche Titel trifft den Kern der Sache besser als der des Originals ‘Das Gesetz des Marktes‘. Das ist zu abstrakt und übersieht, dass hinter den in einem Kaufhaus gestohlenen Dingen ein Mensch steht. Und der ist nur als Kunde etwas wert.
Der 50-jährige Thierry (Vincent Lindon) verliert als Facharbeiter seinen Job. Bereits das Eingangsinterview macht die hochnotpeinliche Befragung und persönliche Erniedrigung durch das Arbeitsamt deutlich. Er kommt sich wie ein Bittsteller vor. Eine Umschulung wäre sinnloser Aktionismus. Sein Besitz wird erfasst: z.B. ein Wohnmobil, Thierry muss um wenige Euro feilschen, bleibt aber ruhig und versucht der Figur des Arbeitssuchenden so viel Empathie zu verleihen wie möglich. Er kann als Security in einem Supermarkt arbeiten und muss genau die Leute melden, die in einer ähnlichen Situation sind wie er. der Rentner, der das Fleisch nicht bezahlen kann, der Youngster, der ein Handy klaut oder eine Kollegin, die die Treuepunkte der Kunden auf ihr Konto umbucht. Sie begeht Selbstmord und das Management gibt ihr die Schuld daran. Die Peinlichkeit der Situation wird durch erdrückende Stille und wortloses Schweigen fast unerträglich. So auch als er einen Kredit über 2000,- € von der Bank will.
Die Laiendarsteller wirken ebenso wie die oftmals frei floatenden Dialoge äußerst authentisch. Und Regisseur Brizé (auch Drehbuch) setzt noch einen drauf, indem er Thierry einen behinderten Sohn zur Seite stellt. Einzige Frage bleibt, warum arbeitet seine Frau Karine nicht?
Und so gibt es auch am Ende keinen üblichen Schluss. Kann es nicht geben. Thierry geht die finale Abwärtsspirale einfach weiter, dankbar für jede Verschnaufpause. Aktueller als je zuvor und genauso wertvoll.