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Arbeits- und Obdachlosen, Gestrandeten, Geflüchteten bietet ein soziales Projekt in Südtirol für etwa ein Jahr ein Dach über dem Kopf. Die Mitarbeiter im Haus der Solidarität geben ihnen mit idealistischem, unbürokratischem Einsatz Hilfe zur Selbsthilfe.

Der sechste Kontinent (2017)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Gestrandet, aber nicht verloren

Das Haus der Solidarität in Brixen bietet rund 50 Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen in Not geraten sind, eine Zuflucht auf Zeit. Arbeitslosigkeit, Konflikte mit dem Gesetz oder Sucht haben einige von ihnen obdachlos werden lassen. Etwa zwei Drittel der Bewohner sind Migranten und Geflüchtete, die im Land Fuß zu fassen versuchen. Einer von ihnen sagt, er habe hier seinen sechsten Kontinent gefunden. Der Dokumentarfilm des Südtirolers Andreas Pichler („Das System Milch“) beobachtet den Alltag in diesem Haus, der wie ein Stück gelebter Utopie anmutet.

An seinem Geburtstag bekommt Erwin Besuch. Hatem, der Koch, und eine kleine Delegation aus dem Haus bringen ihm einen Kuchen mit Kerzen aufs Zimmer. Erwin ist überrascht, gerührt, aber er will dann vorerst noch allein im Zimmer bleiben. Der alte Mann, der so schön Akkordeon spielen kann, wird immer wieder von bösen Erinnerungen heimgesucht. Manchmal trinkt er, um sie für ein paar Stunden in Schach zu halten.

Der Tunesier Hatem lebt schon seit 20 Jahren in Europa, er verdiente einst gutes Geld mit seiner Arbeit. Aber dann verlor er sie im Zuge der Wirtschaftskrise und musste seine Familie zurück nach Tunesien schicken. Die beiden jungen Sozialarbeiterinnen Kathi und Miriam gehen mit den Bewohnern regelmäßig die aktuellen Jobangebote aus der Umgebung durch. Sie machen ihnen Mut, es immer wieder zu versuchen. Hatem hängt sich ans Telefon, klappert die Hotels und Restaurants ab, kassiert Absagen. Er gibt aber die Hoffnung nicht auf.

Ousmane trägt vor der Kamera immer eine Augenmaske. Der Afrikaner musste sich in seiner von politischen Unruhen gezeichneten Heimat vor Häschern verstecken, die ihn umbringen wollten. Seine Traumata nahm er mit. In seinem Zimmer hängen große Plakate an der Wand, auf denen er die deutschen Sätze notiert hat, die er einüben will. Die junge Sumi hat im Haus Zuflucht vor einem sardischen Ex-Freund gefunden, der sie beharrlich stalkte.

Außer den Sozialarbeiterinnen gehören noch die beiden Männer Karl und Alexander zum Betreuerteam des Hauses der Solidarität, das sich aus Spenden finanziert und auch von mehreren Ehrenamtlichen unterstützt wird. Karl und Alexander sind Quereinsteiger, die viel Idealismus und Engagement mitbringen. Sie sind stolz darauf, dass sie den Bewohnern unvoreingenommen begegnen können. Die finanzielle Unabhängigkeit der Einrichtung ermöglicht den Verzicht auf medizinische oder behördliche Falldokumentation. Alexander lässt vieles nahe an sich heran, es bereitet ihm Skrupel, darüber zu entscheiden, wer aufgenommen wird, wer das Haus verlassen muss. Die Betreuer legen Wert darauf, dass die Zusammensetzung bunt gemischt ist, um Gruppenbildung und der Verhärtung möglicher Fronten vorzubeugen.

Zum Prinzip der Selbstverwaltung im Haus gehört, dass die Bewohner mitarbeiten, in der Küche oder indem sie die Gemeinschaftsräume putzen. Nach einem Jahr, so die Zielvorstellung, sollten die meisten von ihnen wieder für sich selbst sorgen können. Ein-, zweimal blickt die Kamera von oben auf das Geschehen im Haus, das dabei auf die Größe eines gezeichneten Grundrisses geschrumpft ist. In die Puppenstuben ohne Dach sind die Bewohner hineinmontiert, sitzen in ihren Zimmern oder spielen Kicker.

Helfend aktiv zu werden, wo staatliche und kommunale Strukturen fehlen oder versagen, erfordert vielleicht einen gewissen Mut zur Naivität, wie er aus solchen Bildern spricht. Doch zwischen Wunsch und Wirklichkeit klafft oftmals eine Lücke, wie die Mitarbeiter zugeben. Das Miteinander verläuft nicht immer friedlich und oft beobachten die Betreuer einen Prozess, der ihnen besonders zu schaffen macht. Nach etwa einem Jahr, sagen sie, weiche die anfängliche Hoffnung vieler Migranten einer Ernüchterung oder gar Mutlosigkeit. Sie stoßen auf Schwierigkeiten, merken, dass sie von der Gesellschaft nicht mit offenen Armen empfangen werden. Einige von ihnen machen dann ihre Betreuer dafür verantwortlich, als hätten die ihnen zu viel versprochen oder als Helfer versagt.

Der Dokumentarfilm begnügt sich mit Beobachtungen und mit den Informationen, die die Protagonisten von sich aus beisteuern. Vieles bleibt halb im Unklaren, über Konflikte im Haus oder auch darüber, dass die Akzeptanz im Ort vorhanden, aber durchwachsen sei, erfährt man nur durch Hörensagen. Fast wirkt die filmische Zurückhaltung so, als müsse dieses soziale Experiment mit Samthandschuhen angefasst werden, um an der permanenten Spannung zwischen Ideal und Wirklichkeit nicht zu zerbrechen.

Aber der Epilog, drei Monate nachdem die Einrichtung mit einem Teil der Bewohner in ein neues Domizil umgezogen ist, stimmt zuversichtlich. Ousmane und einigen anderen ist es gelungen, sich abzunabeln und wieder ein eigenständiges Leben zu führen.

Der sechste Kontinent (2017)

Fünfzig Menschen leben in einem mächtigen alten Haus am Rand der Kleinstadt Brixen in Südtirol. Diebe, Obdachlose und Arbeitslose, Suchtkranke und Flüchtlinge aus der halben Welt. Ihre Biographien lesen sich wie eine Sammlung diverser Lebensgeschichten, die nur eines gemeinsam haben: sie alle sind Gestrandete; Menschen, die aus der Bahn geflogen sind und oft in unsere Gesellschaft als problematisch, manchmal sogar als unerwünscht gelten. Doch dann steht ein Umzug an …

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