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Hinter dem elfjährigen Hauptcharakter dieses Dramas verbirgt sich eine reale Person. Der wahre Fahim Mohammad ist mittlerweile volljährig, hat in seiner Wahlheimat Frankreich Abitur gemacht. 2012 erhielt der junge Bengale mit seinem Vater das Bleiberecht, als er französischer Schachmeister wurde.

Das Wunder von Marseille (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Ein junges Schachtalent ohne Papiere

Fahim (Assad Ahmed) kommt als achtjähriger Junge mit seinem Vater Nura (Mizanur Rahaman) nach Frankreich. In Bangladesch besaß er als kleiner Schachspieler schon einen gewissen Bekanntheitsgrad, aber sein Leben war in Gefahr, weil sein Vater gegen die Regierung demonstriert hatte. 2012, als Fahim elf Jahre alt ist, gewinnt er in Marseille die französische Schachmeisterschaft in der Altersklasse der unter zwölfjährigen Schüler. Zu diesem Zeitpunkt leben Fahim und Nura als Obdachlose in Créteil, einem Vorort von Paris, sie besitzen keine Papiere, sondern halten sich seit der Ablehnung von Nuras Asylantrag illegal im Land auf.

In einer Radiosendung von einer Anruferin auf Fahims Schicksal angesprochen, sichert der damalige Premierminister François Fillon dem jungen Schachmeister und seinem Vater einen geregelten Aufenthaltsstatus zu. Ohne Fahims Talent und Kämpfernatur, aber auch ohne die große Unterstützung seines Trainers Sylvain (Gérard Depardieu) wäre der Traum dieses Kindes und seiner Familie von einem Leben in Freiheit und Sicherheit nicht in Erfüllung gegangen. Im wahren Leben hieß Fahims Trainer Xavier Parmentier, er schrieb mit seinem Schüler und Sophie Le Callennec das Sachbuch Spiel um dein Leben, Fahim!, auf dem dieses Drama basiert. Sein Regisseur, der auch als Schauspieler bekannte Pierre François Martin-Laval, widmete es Parmentier, der vor der Fertigstellung des Films starb.

Martin-Laval hat kein Schachdrama inszeniert, in dem es primär um den Nervenkitzel des sportlichen Wettkampfs oder die Mühen des Trainings geht. Wichtiger ist ihm ein realistischer Blick auf das Leben eines Jungen, der ein großes Talent besitzt, aber als Sohn eines illegalen Flüchtlings in Frankreich Not und bürokratische Ausgrenzung erfährt. Die Beziehung Fahims zum Vater mitsamt den Konflikten, die ihr die zunehmende Integration des Jungen in die französische Gesellschaft beschert, sowie zum Schachtrainer und anderen Wegbegleitern stehen im Mittelpunkt der Geschichte.

In der Rolle Fahims tritt der ebenfalls aus Bangladesch stammende Assad Ahmed auf. Er spielt den Charakter lebhaft und sehr natürlich, mit einem unschuldigen Schalk, der die oft humorvollen Dialoge passend begleitet. Fahim sagt, was ihm einfällt und nimmt dabei keine Rücksicht auf soziale Konventionen, die er sowieso nicht kennt. Selbst sein Vater bleibt von seiner Kritik nicht verschont, weil er mit ihm stets zu spät zu Terminen kommt, wie das zwar in Bangladesch niemanden störte, Sylvain aber nervt und beim Schachturnier nicht passieren darf. Auch dieser ernste Vater bekommt eine lustige Dialogzeile verpasst, die er als Running Gag zum Erstaunen aller äußert, wenn niemand isst: „Guten Appetit!“

Martin-Laval setzt trotz solch sympathischer Komik aber vor allem auf einen nüchternen, dem Realismus verpflichteten Erzählton. Dieser erweist im Grunde der wahren Geschichte seine Reverenz, indem er Zurückhaltung übt und sie nicht als Vorlage für ein lückenlos, in starken Farben ausgemaltes Drama benutzt. Zurückhaltung prägt auch Gérard Depardieus Spiel. Er mimt den ruppigen, eigenwilligen Schachtrainer Sylvain, einfach indem er seiner eigenen Leinwandaura unangestrengt, aber auch relativ ehrgeizlos vertraut.

Dass Fahim ihm widerspricht und sogar seine Art, sich zu kleiden, kritisch kommentiert, ist für Sylvain ganz schön irritierend. Lehren und Lernen vollzieht sich in diesem Kontakt ganz beiläufig, wie ein nie abbrechendes Pingpongspiel. Sylvain predigt dem jungen Hitzkopf, auch mal ein strategisches Remis in Erwägung zu ziehen. Dass der Aufstieg seines Schützlings an der Bürokratie zu scheitern droht, will der Trainer aber nicht zulassen. Ausländische Kinder ohne gültige Papiere dürfen an der französischen Meisterschaft nicht teilnehmen. Also bemüht sich Sylvain massiv um eine Regeländerung. Er lässt Fahim auch eine Weile bei sich wohnen, als sein Vater auf der Straße lebt.

Nicht nur Sylvain, auch Mathilde (Isabelle Nanty), der Sekretärin des Schachclubs, geht das Schicksal des Jungen und seines Vaters nahe. Sie wird ebenfalls helfend aktiv. Bürgerliches Engagement, beherzte mitmenschliche Einmischung können so manches politische Versagen gegenüber Geflüchteten und Migranten kompensieren. Integration vollzieht sich mit Hilfe persönlicher Kontakte und erlebter Solidarität, wie der Film auf bewegende Weise zeigt.

In zweierlei Hinsicht wirkt die Geschichte wie das Pendant zu jener des Maliers Mamoudou Gassama, dem Präsident Macron 2018 die Staatsbürgerschaft verlieh. Der illegale Einwanderer hatte in Paris ein Kind vor dem Absturz aus dem vierten Stock eines Hauses bewahrt, indem er spontan die Fassade hochkletterte. Die Aufnahme in die französische Gesellschaft wurde ihm für dieses außergewöhnliche Verdienst gewährt. Auch Fahim und sein Vater bekommen das Aufenthaltsrecht nicht vorwiegend aus humanitären Gründen, sondern weil die Gesellschaft den jungen Landesmeister im Schach als verdienstvolles Mitglied anerkennt.

Was die beiden wahren Geschichten aber auch verbindet, ist die Mitmenschlichkeit. In beiden Fällen wird einem Kind geholfen. Barrieren zwischen Menschen unterschiedlicher Herkunft werden außer Kraft gesetzt, wenn geteilte elementare Werte ihnen vor Augen führen, wie nahe sie sich im Grunde sind. Dieses Drama berührt auf ganz sanfte, unspektakuläre Weise, gerade weil es nie zu dick aufträgt.

Das Wunder von Marseille (2019)

Der Film erzählt die wahre Geschichte von Fahim Mohammad, dem Junioren-Schachweltmeister, der im Jahre 2000 in Bangladesh geboren wurde und der heute in Frankreich lebt.

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