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Aus dem Grenzgebiet zwischen dem Iran und Pakistan kommt ein Regiedebüt, das das Publikum verblüfft zurücklässt: Pouya Eshtehardis „Untimely“.

Untimely (2019)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Erinnerungen an der Grenze von Raum und Zeit

In Pouya Eshtehardis Langfilmdebüt ist der Titel Programm. Er steht für die Schicksalsschläge, die das Geschwisterpaar im Zentrum des Films verfrüht ereilen und dafür, dass sie wiederholt zur falschen Zeit am falschen Ort sind. Auf einer der Handlung übergeordneten Ebene spiegelt der Titel schließlich die ausgeklügelte Erzählstruktur wider, in der Gegenwart und Vergangenheit so geräuschlos ineinanderfließen, dass es mitunter schwerfällt, nicht das Zeitgefühl zu verlieren.

Hamin (Iman Afshar) schiebt Frust. Sein Vorgesetzter genehmigt ihm keinen Urlaub, um zur Hochzeit seiner Schwester Mahin (Awa Azarpira) zu reisen, weil er im Dienst geraucht hat. Dabei hat Hamin den lieben langen Tag lang nichts Besseres zu tun. Früh morgens wird er zu einem Wachturm gekarrt. Hoch oben auf dem klapprigen Metallgebilde verrichtet der junge Mann seinen Wehrdienst, den Blick auf den Golf von Oman gerichtet. Ein trostloses Niemandsland an der Grenze zwischen Pakistan und dem Iran. Keine Aussicht auf Besserung. Wenn es dunkel wird, holt ihn der Wagen wieder ab. Bis dahin lässt Hamin seine Gedanken schweifen – und Gegenwart und Vergangenheit verschwimmen wie Wellen auf dem Ozean.

Wir schwappen zurück in Hamins Kindheit, als der Vater (Ayoub Afshar) dem Jungen (jetzt: Shayan Afshar) beibringt, ein Huhn zu schlachten. Eine kaltblütige Tat eines herzlosen Mannes. Erinnerungsfetzen an das Begräbnis der Mutter (Mahnaz Raesi) durchfluten den Kinosaal und zeigen, wie sich der kleine Hamin danach liebevoll um seine Schwester (jetzt: Mahsa Narooie) kümmert, sie jeden Tag mit dem Motorrad zur Schule fährt und ihr vom Markt, auf dem er für den Vater arbeitet, Mittagessen bringt. Später werden wir Zeuge, wie auch noch der Vater aus dem Leben seiner Kinder verschwindet und sie brutal zurücklässt. Wie die zwei bei Nachbarn unterkommen und wie Mahin noch als junges Mädchen verheiratet werden soll. Und wie Hamin auf der Suche nach seinem Vater einem grausamen Verbrechen zum Opfer fällt. 

Die Kinder werden (zu) früh erwachsen in dieser Welt und sind Zumutungen ausgesetzt, die kein Mensch, auch kein Erwachsener, aushalten sollte. Und trotzdem ist Untimely kein deprimierender oder pessimistischer Film, keine Zumutung für das Publikum. Denn Pouya Eshtehardi setzt in seinem Langfilmdebüt auf eine Filmsprache, die das Abgebildete durch ihre Form in eine höhere, beinahe metaphysische Ebene überführt. Das beginnt bei den kleinen Einstellungsgrößen, die sich auf Details, Bewegungen und Berührungen konzentrieren, auf Füße in Militärstiefeln beim Ballspiel oder auf Hände beim Rauchen einer Zigarette, und so das Taktile und Sinnliche hervorheben. Diese Formensprache, die ein wenig an die Filme Robert Bressons erinnert, setzt sich in atemberaubenden Kameraflügen über karge Wüstenlandschaften fort. Aus dem Off erklingen Metaphern über das Leben. Und es endet in den Montagesequenzen von Trauer- und Hochzeitsfeiern, die sich in einen tranceartigen Schnittrhythmus steigern. Trotz all des Schmerzes wirken die Bilder federleicht.

Schwer macht es Eshtehardi seinem Publikum hingegen, der Handlung jederzeit zu folgen. Das liegt zum einen an den fließenden Übergängen, durch die der alte Hamin nur einen Schnitt später in jungen Jahren an ein und derselben Stelle auftritt, wodurch der Eindruck erweckt wird, man hätte zwei verschiedene Figuren zur selben Zeit und nicht ein und dieselbe Figur auf zwei verschiedenen Zeitebenen vor sich. Zum anderen führt der Einstieg in diesen Film, der erst ganz am Ende aufgelöst wird, in die Irre. Denn hier zieht Hamins gegenwärtiges Ich sein jüngeres Ich aus dem Wasser. Eine Art Selbsterrettung und innerer Monolog, der die Verwirrung über die Figurenkonstellation erst in Gang setzt.

Aber vielleicht ist das auch genau so gemeint. Vielleicht gibt es in diesem Film, ja in unserem Universum keine Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern nur eine Gleichzeitigkeit aller Dinge. So wie sich die immer selben Verhaltensmuster so lange wiederholen, bis jemand den Mut aufbringt, sie zu durchbrechen. So wie nur Winzigkeiten wie das biologische Geschlecht und die Zeit und der Ort, in die jemand hineingeboren wird, darüber entscheiden, welcher Lebensweg eingeschlagen wird. Immerhin verfügen die Namen der Geschwister, Hamin und Mahin, über exakt die gleichen Buchstabe. Deren Anordnung macht den Unterschied aus.

Untimely (2019)

In einem Wachturm mit Blick über den Golf von Oman wartet der junge Soldat Hamin darauf, abgelöst zu werden, um zur Hochzeit seiner Schwester zu fahren. Als er bei einem Streit seinen Vorgesetzten umbringt, gibt es keinen Weg mehr zurück. Nach dem Selbstmord der Mutter und dem Verschwinden des Vaters, eines Schmugglers, waren Hamin und Mahin ihr Leben lang auf sich gestellt – und die traumatische Kindheit der beiden hat eine Zukunft vorgezeichnet, der sie genauso wenig entgehen können, wie der Tradition in ihrer abgelegenen Grenzprovinz. (Quelle: Filmfest Oldenburg 2020)

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