The Kid Who Lies

Eine Filmkritik von Lida Bach

Wahre Lügen

„Meine Mutter betete, aber kein Heiliger kam und rettete sie“, erzählt der Junge. Ihr Leben hat sie für den 13-Jährigen Sohn geopfert an jenem Tag, als eine Schlammlawine Tod und Zerstörung über die Bevölkerung von Venezuela brachte. Die Lawine hat sie erschlagen, sie ist ertrunken, streunende Hunde haben sie zerrissen — oder den Vater. Hauptsache die Menschen, die ihm unterwegs begegnen hören zu und sind mitfühlend genug, ihm weiter zu helfen. Einen Namen hat das lügende Kind nicht. Wohin sein Weg führt und wo seine Mutter ist, weiß er selbst nicht. Nur eines: dass er sie finden muss.
„Sei still“, sagt die alte Frau, als ihr Mann den Jungen unterbricht, „er erzählt mir eine Geschichte.“ Geschichten erzählen kann der Junge gut. Die Geschichten erhalten The Kid Who Lies am Leben; auf vielerlei Weise. Die fiktiven Biografien sind ein unbewusster Versuch, das Trauma zu verarbeiten. Durch die Lügen sickert ein nie genau definierter realer Verlust, den der jugendliche Protagonist vor zehn Jahren während des Unglücks erlitten hat. Keine der Erzählungen ist wahr und doch sind sie es alle, wie der stumme Katastrophenfilm der Regisseurin und Drehbuchautorin Marité Ugás verdeutlicht. Die fiktionale Handlung des wehmütigen Kinderfilms birgt eine profunde Wahrheit. Das Road Movie der peruanischen Regisseurin folgt dem Jungen durch ein Land, das verwundet ist von Leid und Verlust und dessen Narben noch lange schmerzen.

Die erfundenen Berichte dienen dem Jungen nur dazu, seine Existenzgrundlage zu sichern. Manche bereiten ihm zu Essen, andere geben ihm Kleidung, wie der Vater, der seine tote Frau beerdigt. Der namenlose Hauptcharakter zehrt von den Resten der Toten und trägt ihre Sachen. Manchmal sitzt er an ihrem Platz. Die Katastrophe hat die Menschen solidarisch gemacht. Uneigennützig sind sie deshalb nicht. Immer muss der Junge eine Gegenleistung erbringen. Er assistiert beim Bootsbau, sammelt mit anderen Überlebenden auf einer Schutthalde Verwertbares und hilft, ohne es zu ahnen, beim Diebstahl von Baumaterial. Nicht selten verliert er bei den Tauschgeschäften. Doch Gewinner gibt es nicht in der ungeschönten Inszenierung, die gleich einer Ellipse wieder zum Ausgangsort zurückkehrt.

Die Suche ist ein vergebliches Auf-der-Stelle-treten. Es existiert kein Reifungsprozess, den in Coming-of-Age-Stories die Reise sonst meist symbolisiert. Es gibt nichts zu lernen oder zu begreifen. Die Naturkatastrophe hat alle Gewissheiten mit sich gerissen.

Die pessimistische Grundstimmung scheint im Vergleich zu hiesigen Werken irritierend für einen Kinderfilm. Doch gerade der Anspruch machen das Kinderfilmprogramm der Berlinale Generations zu einer Fundgrube für ernsthafte und authentische Produktionen wie Ugás‘ Werk. Die Regisseurin romantisiert die kindliche Suche nicht mit überflüssigem Sentiment. Das Kind, das lügt ist ebenso Anti-Held wie Identifikationsfigur. Der pragmatische Hauptcharakter ist zäh und nicht besser oder schlechter als jene, die seinen Weg kreuzen.

Opfer der Katastrophe sind in diesem Film alle – was sie unterscheidet, ist höchstens die Weise, in der sie zu Opfern geworden sind. Das individuelle Schicksal tritt hinter der Erfahrung selbst zurück. Menschliches Leid lässt sich nicht an einer Skala bemessen, auch davon erzählt The Kid Who Lies. Die Geschichte seiner Ursache mag erfunden sein, der Schmerz ist dennoch unmittelbar, grausam – und wahr.

The Kid Who Lies

„Meine Mutter betete, aber kein Heiliger kam und rettete sie“, erzählt der Junge. Ihr Leben hat sie für den 13-Jährigen Sohn geopfert an jenem Tag, als eine Schlammlawine Tod und Zerstörung über die Bevölkerung von Venezuela brachte.
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