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Der vietnamesische Dschungel verändert sich und mit ihm auch die uralten Traditionen einer dort ansässigen ethnischen Minderheit. Ein Debüt über die Überforderungen des Alltags und den universellen Wunsch, sich davon freizumachen.

The Dust of Modern Life (2021)

Eine Filmkritik von Clementine Engler

Eine spirituelle Reise

Liêm wäre am liebsten wieder Kind, denn damals verbrachte er die meiste Zeit mit seinem Vater im  Dschungel. Der junge Mann ist Sedang, eine ethnische Minderheit in Vietnam. Der Alltag in seinem Heimatdorf sei viel zu kompliziert geworden. Um seinen Kindern ein besseres Leben zu ermöglichen, arbeitet er fleißig im Haushalt und auf dem Feld.

Liêms verstorbener Vater lehrte ihm, sich durch das Dickicht des Urwalds zu schlagen, Tiere zum Essen zu erlegen, seine Seele und den Körper von den Überforderungen des Alltags zu reinigen. Seit seiner frühesten Kindheit zieht er dazu einmal im Jahr in den Dschungel, um diese archaische Lebensweise zu praktizieren – eine uralte Tradition, die den männlichen Sedangs vorbehalten ist und von Generation zu Generation weitergegeben wird.

Doch der Dschungel ist nicht mehr das, was er noch in Liêms Kindheitstagen war: statt Affen, Wildkatzen und Hirschen, werden Ratten und Frösche gefangen. Mit dem Schwinden von Flora und Fauna, scheint auch die uralte Tradition der spirituellen Reinigung zu verblassen. Denn die nächste Generation, zu der auch Liêms Sohn Quang gehört, fehlt es an Interesse – sie beobachten nicht, wollen nichts lernen, so der Vorwurf.

In ihrem Langfilmdebüt verhandelt Franziska von Stenglin ein Thema, das bereits früher Gegenstand ihrer künstlerischen Auseinandersetzung war: Formen des Rückzugs aus den Anforderungen des Alltags. Mit The Dust of Modern Life begibt sie sich in das Spannungsfeld zwischen Moderne und Tradition, Globalisierung und Autonomie, Kapitalismus und alternativen Wirtschaftsformen und zeigt dabei Momente des Umbruchs auf. Das zeigt sich zum Beispiel in dem zentral angebrachten Lautsprecher, der als Tor zur globalisierten Welt fungiert und den Makrokosmos des alltäglichen Lebens der Dorfbewohner*innen beschallt. Aktuelle Nachrichten, von UFO-Sichtungen über die Risiken und Chancen des Internets, hin zu der Verbreitung internationaler Produkte auf dem vietnamesischen Markt.

Omnipräsent erscheint die jüngere Geschichte Vietnams, der grausame Krieg, der das Land zwanzig Jahre spaltete. Die Männer im Dorf tragen ganz selbstverständlich Militäruniformen, singen mit Stolz patriotische Lieder, die an den Krieg und an seinen erfolgreichen Ausgang erinnern. Obwohl die meisten zu jung sind, um den Krieg selbst miterlebt zu haben, wirkt er hier identitätsstiftend. Teil davon ist auch der Personenkult um Hồ Chí Minh, einem Revolutionär, der im 20. Jahrhundert maßgeblich in der vietnamesischen Befreiungsbewegung kämpfte und durch sein Wirken internationale Verehrung erlangte. Während eines losgelösten Dorffests, mit vielen Zigaretten, Alkohol und Popmusik, wird dazu angehalten wieder mehr nach Minhs Vorbild zu leben.

Am nächsten Morgen begibt sich Liêm begleitet von drei weiteren Männern auf ihre spirituelle Reise in den Dschungel. Während die Bilder der Vegetation in ihrer Schönheit zunehmen und überwältigen, zieht die Soundkulisse aus Surren und Gezwitscher in einen hypnotisch-meditativen Sog. Visuell und auditiv völlig einnehmend, wirkt die traditionelle Prozedur über die Leinwand hinaus erlebbar.

The Dust of Modern Life greift damit einen weltweit-verbreiteten und in vielfältigen Gestalten auftretenden Wunsch auf: den Wunsch, sich vom Alltagsstress zu reinigen. Die Allgemeingültigkeit des Themas schafft eine Verbindung zur eigenen Lebensrealität und bewegt sich über die Grenzen des zentralen Hochlandes von Vietnam.

Wie weit die Lebensrealitäten teilweise dann doch auseinanderklaffen, drückt sich in einer amüsant anmutenden Szene aus, in der die Männer irritiert über die anwesende Regisseurin und ihren Lebensstil reden – ohne Kinder, zwar mit Freund, aber unverheiratet. Sie spricht ja kein Sedang und versteht dementsprechend nichts. Durch das Gespräch schreibt der Film den Standpunkt der Filmmachenden in das Material ein und die Frage des Verhältnisses zu dem Abgebildeten tut sich auf.

Während der Film in der ersten Hälfte eine ethnografische Studie des Dorflebens vornimmt, entwickelt er sich in der zweiten in eine experimentelle Richtung mit traumhaften Sequenzen. Da von Stenglin in der Vergangenheit vor allem mit Fotografie und Video, aber auch Installation und Skulptur arbeitete, verwundert es nicht, dass ihr Spielfilmdebüt künstlerische Wege geht, anstatt einen nüchternen Dokumentarstil zu verfolgen. Das Ergebnis ist eine ästhetische Freude. Gedreht auf 16mm-Material, fängt die Kamera die sich entfaltende Farbenpracht der Natur ein und zeigt Nachts die vollkommene Dunkelheit, die den Urwald umhüllt. Das Spiel mit Licht und Schatten wird zu einem stilistischen Mittel – eine Szene, die im Gedächtnis bleibt, zeigt Liêm, der nachts im Lichtkegel seiner Stirnlampe Frösche im Fluss fängt.

The Dust of Modern Life nimmt die Zusehenden mit auf eine Reise, die zu Beginn alltägliche Überforderung erlebbar macht und dann durch eine tiefe meditative Phase im Urwald geleitet. Als Liêm auf einer Autoladefläche in der Abendsonne vom Dschungel Richtung Dorf fährt, geht auch im Kinosaal eine Reise zu Ende. Und trotz räumlicher Distanz hat der Film eine Verbindung geschaffen.

 

The Dust of Modern Life (2021)

Liem, ein Sedang, eine ethnische Minderheit in Vietnam, kocht für die Familie und arbeitet auf dem Feld. Aber bald wird er, wie jedes Jahr, die Familie für einige Tage verlassen. Gemeinsam mit anderen Männern geht er in den Dschungel, um an archaische Lebensweisen zu erinnern und sich von dem zu ernähren, was die Natur ihm bietet. Eine spirituelle Reinigung und eine Tradition, die ebenso gefährdet ist wie der Dschungel

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