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In seiner Henry-James-Adaption „Das Tier im Dschungel“ erzählt Patric Chiha von Einsamkeit und vom Verstreichen der Zeit – mitten in einem Nachtclub.

Das Tier im Dschungel (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Saturday Night Fever (Dream)

1979. Eröffnungsnacht im „namenlosen Club“ in Paris. Auf High Heels und in roten Strümpfen kommt May (Anaïs Demoustier) auf regennassem Asphalt herbeigelaufen und wird von der mysteriösen Türsteherin (Béatrice Dalle) in eine hedonistische Welt hereingewinkt. Mit ihrem Freund Pierre (Martin Vischer) und ihrer Clique erlebt May eine kurze, wilde Ekstase auf dem Dancefloor. Doch dann erblickt sie John (Tom Mercier), im knallroten Oberteil.

Der behauptet, ihr schon einmal begegnet zu sein, in einem Sommer vor vielen Jahren. May fühlt sich sofort angezogen von diesem „Jungen mit einem Geheimnis“, der davon überzeugt ist, dass ihm etwas Außergewöhnliches geschehen werde. John bittet May, sich ihm beim Warten auf dieses Ereignis anzuschließen. Und so warten die beiden fortan gemeinsam, jeden Samstag im Club, ein halbes Jahrhundert lang. Die Wahl des Sozialisten François Mitterrand zum französischen Staatspräsidenten, der Tod des Countertenors Klaus Nomi, die Aids-Krise und -Bewegung, der Fall der Mauer, 9/11 – all das zieht an diesem passiven Nicht- oder Vielleicht-Paar vorüber.

Mit Das Tier im Dschungel adaptiert der 1975 geborene Regisseur Patric Chiha die gleichnamige Kurzgeschichte von Henry James. Das Drehbuch, das Chiha zusammen mit Axelle Ropert und Jihane Chouaib geschrieben hat, verlegt die überwiegend in einem Londoner Haus angesiedelte Handlung der Novelle in einen Nachtclub. Hier tobt einerseits das Leben; die Menschen tanzen und feiern – an Weihnachten, an Silvester, an Geburtstagen, aber auch an jedem gewöhnlichen Samstag. Und andererseits kann es auch hier unfassbar einsam sein. Mit seiner Kamerafrau Céline Bozon erfasst Chiha die sich vergnügende Menge – und im Kontrast dazu John und May, die sich immer mehr isolieren in ihrem Ausharren am Rande der Tanzfläche.

Der Film ist ein Triumph des Szenenbilds, des Kostümdesigns und der Musik. Dass die Jahre ins Land ziehen, merken wir vor allem durch die Veränderungen der Ausstattung, der Mode und der sich wandelnden Klänge: Aus den Disco-Rhythmen werden irgendwann Techno-Beats, die Outfits und Drogen werden der Zeit angepasst, während John und May ungerührt ihr Warten fortsetzen. Auf dramaturgischer Ebene ist das zuweilen etwas zu verkopft. Eifersuchtsdramen durch Mays Freund oder durch die Club-Mitarbeiterin Céline (Mara Taquin) bleiben zu abstrakt, um emotional zu berühren. Die Figuren funktionieren insgesamt eher als Ideen, weniger als greifbare Persönlichkeiten – sowohl May und John als auch das Nebenpersonal, etwa die schwarzgewandete Türsteherin, die zudem als Erzählerin fungiert.

Das einnehmende Schauspiel, insbesondere von Anaïs Demoustier und Béatrice Dalle, macht Das Tier im Dschungel streckenweise dennoch zu einem Faszinosum – und lässt uns spüren, wie tieftraurig die Story im Kern ist. Während die literarische Vorlage über eine wuchtige Gesellschaftskritik verfügte, zielt Chihas Verfilmung eher auf das Persönliche, auf die bittere Erkenntnis, dass wir den Moment an uns vorüberziehen lassen, in großer Erwartung auf etwas, das womöglich nie kommen wird.

In einer Szene trifft May nach langer Funkstille ihre einstige Freundin Alice (Sophie Demeyer) im Club wieder. Wie die beiden sich im bemühten Gespräch bewusst werden müssen, dass sie sich völlig voneinander entfernt haben, dass aus der damaligen Nähe inzwischen Entfremdung und gegenseitiges Unverständnis geworden ist – das trifft mitten ins Herz.

Das Tier im Dschungel (2023)

Es beginnt Ende der 1970er-Jahre mit schillernden Nächten im Club als Ort der endlosen (Un)möglichkeiten und zeitlosem Uhrwerk einer Stadt. Hier warten John und May auf den außergewöhnlichen, alles verändernden Moment. Um sie herum ist alles laut und in Bewegung, während sie in Ruhe ausharren. Es vergehen 25 Jahre, auf dem Röhrenfernseher verfolgen sie das Weltgeschehen: Mitterrands Amtszeit, Aidskrise, Mauerfall und 9/11. Johns obsessives Ausschau-Halten nach dem einen, großen Ereignis wird zum Ungeheuer, May zur leidtragenden Komplizin. Von 1979 bis 2004: von Disco zu Techno. Mode, Bewegungen und Drogen im Wandel. Antanzen gegen die Zeit, die immer schneller vergeht. Verloren unter Menschen, gemeinsam allein, beobachten die beiden die Welt vom Rand aus. Wenn es nur Liebe wäre. Patric Chiha versetzt das Paar aus Henry James’ Kurzgeschichte „The Beast in the Jungle“ in den Club und kontrastiert sein schicksalhaftes Warten mit dem ultimativen Im-Moment-Sein und dem hedonistischen Begehren der Tänzer*innen, in immerwährenden Choreografien die Zeit aufzulösen.

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