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Der Musiker Questlove holt im Dokumentarfilm Summer of Soul“ ein Festival zurück ins kulturelle Gedächtnis, dass über Woodstock vergessen wurde.

Summer of Soul (...Or, When the Revolution Could Not Be Televised) (2021)

Eine Filmkritik von Maria Wiesner

Es gab mehr als ein Woodstock

Im Sommer 1969 wurde ein Musikfestival legendär, das tausende Menschen anzog. Nein, die Rede ist nicht von Woodstock. Zur gleichen Zeit als auf einer Farm südlich von New York Hippies in die Geschichte eingingen, veranstaltete Tony Lawrence das Harlem Cultural Festival – eine Veranstaltungsreihe im New Yorker Stadtteil Harlem, bei der Blues-, Gospel- und Soulgrößen wie B.B. King, Steve Wonder, Mahalia Jackson und Nina Simone auftraten. Mehr als 300.000 Menschen tanzten und sangen, trotzten heißer Sonne und Regenschauern, um ihre Musikhelden zu sehen. Sogar ein Kamerateam begleitete die Auftritte, doch das Material verschwand jahrzehntelang in einem Keller. Niemand interessierte sich für „das Schwarze Woodstock“. Der Musiker Questlove, bekannt aus Jimmy Fallons Tonight Show, will diese Veranstaltung zurück ins kulturelle Gedächtnis holen und hat den rund zweistündigen Dokumentarfilm The Summer of Love  (…or, when the Revolution could not be televised)“ gedreht.

Er bedient sich dabei nicht nur jener Originalaufnahmen der Auftritte, er hat auch zahllose Gäste aufgespürt, die erzählen, wie sie sich als junge Mädchen am Nachmittag zum Festival schlichen, ohne ihren Eltern Bescheid zu geben, oder wie der heutige Produzent Musa Jackson von jugendlichen Schwärmereien für Sängerinnen auf der Bühne berichtet. Jackson lässt dann auch den entscheidenden Satz fallen: „Ich war zwar noch ein Kind, aber das war das erste Mal, dass ich so viele People of Color sah.“

Was Questlove hier nachzeichnet, ist die Atmosphäre eines Sommers, der alles andere als friedlich war. In wenigen Minuten fasst er anhand von Archivaufnahmen die brenzlige politische Situation jener Jahre zusammen. Legt die Ermordung John F. Kennedys, Malcom X’, Martin Luther Kings und Robert Kennedys in scharfen Schnitten hintereinander, dass sie wie die Schüsse die friedliche Atmosphäre zerreißen. Dazu kam der Vietnamkrieg und Nixons Einzug ins Weiße Haus. In Harlem lag Protest, Angst und Gewalt in der Luft. „Wir brauchten die Musik“, berichtet eine Zeitzeugin. Zu groß war die Wut der Schwarzen Bevölkerung. Tony Lawrence, der das Festival auf die Beine stellte, durch Charme und Tricks die Musiker auf die Bühne holte und die Black Panther für die Security gewann, sicherte sich sogar die Unterstützung des New Yorker Bürgermeisters.

Für die Vorstellung dieses flamboyanten Charakters nimmt sich Questlove jedoch, wie auch bei der politischen Einordnungen, nur wenige Minuten Zeit. Viel mehr Wert legt er darauf, die Originalaufnahmen der historischen Musikauftritte teilweise in voller Länge zum ersten Mal einem Publikum zu zeigen. Auftritte von Nina Simone, The 5th Dimension oder Sly and the Family Stone laufen fast ohne Unterbrechung – was nicht stört, denn die Musik ist exzellent und die Aufnahmen einzigartig, auch wenn sie mitunter die schlierige Filmqualität der Fernsehproduktion der späten Sechzigerjahre tragen.

Summer of Love ist damit eher Musik- als Dokumentarfilm, hat jedoch den interessanten Nebeneffekt, dass sich Überlegungen zur kathartischen Wirkung von Mahalia Jacksons Gospelstimme ergeben. Der Film schließt eine Lücke, die bislang in der visuellen Geschichte der amerikanischen People of Color klaffte. Er hebt ein Event hervor, das für eine Generation prägend war. Dass der Bedarf nach diesen Geschichten groß ist, gerade jetzt nach den neuen Wunden die Trumps Präsidentschaft in der amerikanischen Gesellschaft hinterlassen hat, zeigt sich auch bei der Premiere des Films in Sundance. Dort gewann er nicht nur im amerikanischen Dokumentarfilm-Wettbewerb den Preis der Grand Jury, sondern erhielt auch den Zuschauer-Award.

Der Film ist ab dem 30. Juli 2021 auf Disney+ zu sehen.

Summer of Soul (...Or, When the Revolution Could Not Be Televised) (2021)

Das Harlem Cultural Festival fand im gleichen Sommer statt wie das Festival in Woodstock. Doch während letzteres zu einer Legende wurde, geriet das Festival in Harlem ein wenig in Vergessenheit, obwohl dort genauso viele Menschen teilnahmen wie in Woodstock. Die rund 40 Stunden Filmmaterial gerieten in Vergessenheit und lagerten irgendwo ein, bis sie eines Tages wiederentdeckt und filmisch bearbeitet wurden.  Zu sehen sind unter anderem Stevie Wonder, Sly and The Family Stone, Nina Simone, B.B. King, the Staple Singers, the 5th Dimension, David Ruffin, Mahalia Jackson, Ray Barretto sowie Gladys Knight and the Pips.

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