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Das Theater möchte der Gesellschaft auf den Puls fühlen. Deshalb werden die Ensembles und Stücke diverser. Wenn aber Schauspieltalente mit körperlicher Behinderung auf die Bühne streben, erhalten sie oft Absagen. „Spielen oder nicht spielen“ porträtiert zwei junge Frauen, die ihre Träume trotzdem verwirklichen. 

Spielen oder nicht spielen (2023)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Wie barrierefrei ist das Theater?

Die harten Zahlen sind erst am Schluss dieses Dokumentarfilms zu lesen. Von den über 5000 Schauspieler*innen, die fest im Ensemble deutscher Stadt- und Staatstheater arbeiten, haben ganze 15 eine Behinderung. Das entspricht bei weitem nicht dem Anteil von Menschen mit Behinderung in der Bevölkerung. Die jungen Schauspielerinnen Lucy Wilke und Yulia Yáñez Schmidt zählen zu diesen wenigen Künstler*innen, die geschafft haben, was die Ausschlusskriterien zu vieler Theater und Schauspielschulen gewohnheitsmäßig verhindern.

Sebastian Bergfeld und Kim Münster erkunden mit ihrem Dokumentarfilm neues Territorium. Er markiert die Lücke, die sich in der Theaterlandschaft zwischen dem zeitgemäßen Anspruch, diverser zu werden, und der gängigen Praxis auftut. Die Barrieren, auf die die körperbehinderte Lucy Wilke stößt, sind an den altehrwürdigen Münchner Kammerspielen immer noch sehr manifest: Türschwellen, Treppen und vieles andere im Gebäude kommt nun, wie eine Regisseurin erklärt, auf den Prüfstand. Was kann, was muss an die Bedürfnisse der beiden Ensemblemitglieder im Rollstuhl angepasst werden? Die Barrieren gibt es aber auch in den Köpfen, wie sowohl Lucy, als auch Yulia Yánez Schmidt haben erfahren müssen. Die gebürtige Kölnerin Yulia trägt als Folge einer vorgeburtlichen Schädigung eine Beinprothese und scheiterte ihretwegen wiederholt mit ihren Bewerbungen an Schauspielschulen. Sie könne die Ausbildung körperlich nicht schaffen und werde danach sowieso nicht besetzt, bekam sie zu hören.

Aber welche Bühne nimmt schon Schauspielende ohne professionelle Ausbildung? Der Weg, der Yulia schließlich ins Ensemble des Jungen Schauspiels Düsseldorf führen wird, beginnt mit ihrer Aufnahme an das inklusive Schauspiel-Studio Wuppertal. Sie gehört zu den ersten, die dort als talentierte Menschen mit Behinderung eine fundierte schauspielerische Ausbildung erhalten. Der Film begleitet die oft fröhlich lächelnde junge Frau bis zum Abschluss, lässt außer ihr auch Ausbilder, einen Bühnenintendanten, einen Theaterhistoriker zu Wort kommen. Immer wieder, auch unmittelbar vor der Premiere des lange geprobten Stücks „Draußen vor der Tür“, beschleichen Yulia bange Zweifel. Wird sich das Publikum wirklich für ihre künstlerische Leistung interessieren, oder sie stattdessen gönnerhaft loben für ihren Mut, sich so wie sie ist auf die Bühne zu stellen?

Diese Befürchtung ist nicht unberechtigt. Ein Theaterkritiker erzählt vor der Kamera, dass er aufpassen müsse, Produktionen nicht reflexhaft einen Bonus für Inklusion zu geben. Denn er wolle sich ja ganz auf die künstlerische Qualität konzentrieren. Die Beobachtungen des Probealltags, die Erzählungen der beiden Protagonistinnen und die Statements aus dem professionellen Umfeld fördern viele thematische Aspekte zutage. Behinderte Menschen müssen Mut aufbringen, sich im Spiel zu öffnen und somit verletzlich zu zeigen, denn sie sind ja nicht frei von den Komplexen, die ihnen der gesellschaftliche Blick beigebracht hat.

Eine Archivszene zeigt Lucy Wilke im Jahr 2017 in dem Bühnenstück Fucking Disabled, das ihren Durchbruch markierte. Darin lädt sie im Rollstuhl, mit entblößter Brust, einen Mann zum Sex ein, dem sie erst wortstark helfen muss, über seine Vorurteile hinweg zur eigenen Lust zu finden. Lucy erzählt vor der Filmkamera von einer glücklichen Kindheit auf einem Wohnwagenplatz und von Eltern, die sie ermutigten, ihre Wünsche zu verwirklichen. Sie machte eine Bühnen- und Gesangsausbildung, spielte in einer Performancegruppe. Zu den Proben an den Kammerspielen und auch auf der Bühne begleitet sie ihre Partnerin und persönliche Assistentin Lotta. Aufgrund ihrer spinalen Muskelatrophie benötigt Lucy oft Hilfe, wenn sie ihren Körper bewegen will. Die langen Probentage sind für sie durchaus belastend, wie sie sagt. Einmal muss sie die Probe vorzeitig abbrechen. Die Regisseurin möchte daraufhin wissen, ob sie ihre Rolle bei der Aufführung durchhalten wird. Die Filmemacher Bergfeld und Münster zeigen auch mit dieser Szene, dass es dem Theaterbetrieb in der Praxis gar nicht so leicht fällt, behinderten Mitgliedern echte Teilhabe zu ermöglichen.

Wenn das Theater ein Abbild der Gesellschaft sein will, hat es noch viel aufzuholen. Der Lohn für diese Anstrengung wäre unter anderem, dem Publikum neue Erfahrungen zu ermöglichen. Die Figur aus einem bekannten Stück kann beispielsweise – das wird im Film gezeigt – nicht nur im Rollstuhl sitzen, sondern ihren Vortrag auch mit eigener Erfahrung bereichern. Wenn alles immer beim Alten bliebe, wären neue Inszenierungen zunehmend sinnlos. Dieses sehenswerte Film macht Lust auf innovatives Theater, in dem Inklusion und Experimentierfreude vorgelebt werden.

Spielen oder nicht spielen (2023)

„Spielen oder nicht spielen“ handelt von zwei talentierten und entschlossenen Schauspielerinnen mit Behinderung. Der Film dokumentiert die Herausforderungen und Konflikte, Hindernisse und Erfolge von Lucy und Yulia zu Beginn ihrer Karriere. Nach erfolgreichen Auftritten in der freien Theaterszene wird Lucy ins Ensemble der Münchener Kammerspiele aufgenommen.
Sie muss sich an den intensiven Alltag des Theaterlebens gewöhnen. Aber auch das Theater verpflichtet sich alte, wie auch gewohnte Abläufe dem neuen Ensemblemitglied anzupassen. Yulia spricht bei der ersten Schauspielausbildung für Menschen mit Behinderung am Schauspiel Wuppertal vor. Nach mehreren Absagen von Schauspielschulen wird sie nun genommen.
Das ist ein Beispiel für das Versprechen des Theaters Spiegelbild der Gesellschaft zu sein. Nicht nur mit vielfältigen und mutigen Themen, sondern auch in der Repräsentanz aller gesellschaftlicher Gruppen. Es geht um das Umdenken am Theater: Gebäude mü ssen umgebaut werden, Probenpläne und die Probe selbst müssen sich den Möglichkeiten ihres diversen Ensembles anpassen. Alte Traditionen und der Anspruch, Schauspieler*innen mit Behinderung am Theater vertreten zu sehen, treffen aufeinander. (Quelle: Real Fiction Filme)

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