Log Line

Aly Muritibas „My Private Dessert“ lief 2021 beim Filmfestival von Venedig in der unabhängigen Reihe „Giornate degli Autori“ und war Brasiliens Oscar-Beitrag 2022. Das Beziehungsdrama bringt scheinbar unvereinbare Gegensätze zusammen.

My Private Desert (2021)

Eine Filmkritik von Falk Straub

Aufbruch ins Ungewisse

„Boy meets girl“ – auf diese verkürzte Formel lassen sich die meisten Liebesfilme bringen. Doch was ist, wenn ein Junge nicht auf ein Mädchen, sondern auf einen anderen Jungen trifft, der nichts lieber als ein Mädchen sein möchte? Auf den ersten Blick erscheint das kompliziert, noch dazu, wenn die Geschichte in Brasilien unter der Regierung Jair Bolsonaros spielt. Unter Aly Muritibas Regie ist am Ende aber alles ganz einfach.

Ganz am Ende sitzt Robson (Pedro Fasanaro) in einem Bus, den Kopf gegen die Scheibe gelehnt, den Blick in die Zukunft gerichtet. Daniel (Antonio Saboia), der Robson über die Untiefen des digitalen Datings als Sara kennenlernte, schaut ihm stumm hinterher. Eine gemeinsame Nacht auf dem Busbahnhof samt Sex auf der Bahnhofstoilette liegt hinter ihnen. Was nicht sonderlich prickelnd klingt, inszeniert Aly Muritiba so flirrend und gleichzeitig zärtlich, dass daraus echte Romantik entsteht. Wie es seinem Film überhaupt gelingt, Gegensätze zusammenzubringen.

Daniel stammt aus Curitiba. Die Stadt im Süden Brasiliens zählt zu den kältesten des Landes. Robson wohnt im heißen Norden. Als Daniel die Abdeckplane von seinem Pick-up-Truck zieht, den Schlüssel ins Zündschloss steckt und sich auf eine 3000 Kilometer lange Reise begibt, wechseln mit der Szenerie auch die Farben und die Gemütslagen. Mit Daniels Aufbruch ins Ungewisse setzt die Musik ein, und die Eröffnungs-Credits laufen über die Leinwand. Zu diesem Zeitpunkt läuft der Film bereits eine halbe Stunde, in der wir mit Daniel verweilten.

Daniel ist Polizist, wegen eines gewalttätigen Ausrasters allerdings vom Dienst suspendiert. Der Weg zurück ist verstellt. Finanziell hält er sich mit Gelegenheitsjobs als Sicherheitsmann über Wasser. Das Einzige, was ihn noch zu Hause hält, ist sein pflegebedürftiger Vater, um den er sich wortkarg, aber liebevoll kümmert. Gesprochen wird hier im kühlen Süden nur das Nötigste, und über Gefühle gleich gar nicht.

Wie hart Daniels Erziehung gewesen sein muss, erschließt sich nur über Bilder. Dann sitzt sein geistig verwirrter Vater herausgeputzt in seiner alten Uniform aus Zeiten der Militärdiktatur an seinem Schreibtisch und lädt seine frisch gereinigte Pistole durch. Als Daniels jüngere Schwester Debora (Cynthia Senek) ihm dennoch von ihrer neuen Liebe erzählt, noch dazu zu einer Frau, lässt Daniel schließlich alles stehen und liegen und macht sich auf die Suche nach Sara, die den Kontakt zu ihm abgebrochen hat.

Schon hier werden wir stutzig, nach Daniels Ankunft nimmt das Staunen zu. Sieht dieser kernige, sich nach außen hart gerierende Typ denn nicht, was wir sehen? Erkennt Daniel wirklich nicht, wer auf den Flugblättern mit Saras Foto, die er überall in der Stadt verteilt, noch zu sehen ist? Begreift er nicht, dass Saras Bekannter Fernando (Thomas Aquino) Daniel vor einem ersten Treffen mit Sara deshalb so auf den Zahn fühlt, weil er Sara vor dem bewahren will, was passieren könnte, wenn Daniel entdeckt, dass sich unter Saras Perücke und Schminke Robson verbirgt? Selbst nach einem ersten flüchtigen Treffen in einer Disco bleibt Daniel weiter ahnungslos, und der Film wechselt die Perspektive.

Bevor die Liebenden zueinanderfinden, folgen wir Robson, der sein Herz auf der Zunge trägt, durch dessen Alltag. Wir begleiten ihn bei seinem Knochenjob auf dem Großmarkt und wenn er mit seiner streng gläubigen Großmutter Tereza (Zezita Matos) den Gottesdienst besucht. Geht es nach ihr, nach Robsons Vater, der den Sohn von zu Hause fort- und zur Großmutter geschickt hat, und dem Pastor, dann lässt sich Robsons „Zustand heilen“. Um Konfrontationen und Schlimmeres zu vermeiden, geht er als Sara nur am anderen Flussufer aus, eine lange Fahrt mit der Fähre entfernt. Dort tanzt er schließlich irgendwann eng umschlungen mit Daniel zu Bonnie Tylers Total Eclipse of the Heart. Bevor Daniels Herz sich öffnet, muss es erst noch eine Finsternis überstehen.

Die Liebe, sie macht tatsächlich blind in Aly Muritibas bittersüßem Beziehungsdrama. Weil Daniel zunächst nicht sieht, dass Sara nicht nur Sara, sondern auch Robson ist, kommt er erst gar nicht auf den Gedanken, dass die allerorten aufgehängten Flugblätter Robson in Gefahr bringen könnten. Die Liebe öffnet in diesem Film aber auch Augen. Robson erkennt, dass er ein weiteres Mal fortmuss, um sein Leben leben zu können. Und Daniel erkennt, dass er fortan ein anderes Leben leben kann, wenn er es denn möchte. Das Ende ist auch ein Anfang, ein abermaliger Aufbruch ins Ungewisse.

My Private Desert (2021)

Daniel ist ein Musterbeispiel von einem Polizisten, doch als er einen Fehler macht, wird er vom Dienst suspendiert. Da er nun nichts mehr hat, was ihn an seine Heimatstadt bindet, bricht er auf, um seine Liebe zu suchen, die er online kennengelernt hat. 

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen