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Knapp 9 Millionen Einwohner hat die Megacity Mexiko-Stadt — aber nur 45 Rettungswagen der öffentlichen Hand. Und so gibt es zahlreiche Ambulanzen, die auf eigene Rechnung durch die Stadt fahren. In „Midnight Family“ ist der Filmemacher Luke Lorentzen unterwegs mit einem dieser Gefährte.

Midnight Family (2019)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Eine Familie im Dienste des Sanitätswesens

Gerade mal 45 offizielle Krankenwagen sind in der mexikanischen Hauptstadt Mexiko-Stadt unterwegs. Für rund 9 Mio. Einwohner ist das natürlich viel zu wenig. Und so hat sich ein privat organisiertes Krankentransportwesen herausgebildet, das am Rande der Legalität und oftmals mithilfe korrupter Polizisten die Verletzten und Kranken der Stadt einsammelt, erstversorgt und in die Krankenhäuser bringt. Natürlich nur gegen Bares und per Sofortkasse. Und wer nicht zahlen kann, hat eben Pech gehabt und bleibt am Straßenrand liegen, bis — falls überhaupt — ein offizieller Krankenwagen zufällig des Weges kommt. 

Eines dieser privaten Krankentransportunternehmen wird von der Familie Ochoa betrieben — und zwar vom Vater Fer (der immerhin als Einziger über eine Sanitätsausbildung verfügt), den beiden minderjährigen Söhnen Juan (17 Jahre alt) und Josue (ca. 11 Jahre alt) sowie deren Onkel Manuel. Nacht für Nacht durchstreifen sie mit ihrem feuerroten Gefährt die Straßen der Stadt, die Ohren stets am Funkgerät, das auf die Frequenz der Polizei eingestellt ist. Manchmal gibt es auch einen Tipp von einem Polizisten — gegen eine entsprechende finanzielle Gegenleistung natürlich. Und dann geht es darum, ohne Rücksicht auf Verluste und unter Missachtung nahezu aller Verkehrsregeln als erster am Ort des Geschehens zu sein und der ebenso hungrigen Konkurrenz die Rücklichter zu zeigen. 

Dabei geht es mitunter recht rüde und auch rasant zu. Andere Verkehrsteilnehmer werden über das Außenmegaphon von der Straße gebrüllt und manche der Fahrten, die die Kamera aus dem Inneren des Führerhauses filmt, sind fast schon schwindelerregend und dazu angetan, den Herzschlag des Publikums sowie dessen Blutdruck ordentlich in die Höhe zu treiben. Zumal dann, wenn plötzlich die Konkurrenz vor der eigenen Windschutzscheibe auftaucht und aus dem Kampf gegen die Uhr noch einer gegen die Rivalen der überwiegend nächtlichen Straßen wird. Denn wenn die Patient*innen in die teureren Privatkrankenhäuser gebracht werden, die rund drei Viertel der medizinischen Infrastruktur der Stadt bilden, winkt ihnen dort eine fette Provision. Und die Fahrt im privaten Rettungswagen kostet natürlich ebenso einiges. Dabei riskieren die Ochoas schon auch mal das Leben der Patient*innen, wenn sie statt dem nächstgelegenen ein weiter entferntes Spital anfahren, nur weil dort eine höhere Provision winkt. Dass die Patientin in einem Fall deswegen verstirbt, gehört zu den Kollateralschäden dieses knallharten Geschäfts. 

Nicht selten gehen die Retter leer aus, wenn die Geretteten nicht über das nötige Kleingeld verfügen oder aber wie in einem Falle die lieben Verwandten der in Not Geratenen aus welchen Gründen auch immer das Geld nicht bezahlen wollen. Und so kommen zu den kleinen und großen menschlichen Dramen um Verkehrsunfälle, Gewaltdelikte und andere Zwischenfälle noch die unzähligen Zwischenmenschlichen hinzu, denen sich die Ochoas ausgesetzt fühlen und die sie teilweise daran hindern, einfach nur ihr kleines Familienunternehmen zu betreiben. Denn nicht nur für ihre Kundschaft, auch für die Ochoas selbst ist das, was sie tun, eine Frage des Überlebens. Da muss schnell auch mal der nächtliche Proviant rigoros zusammengestrichen werden. 

Zum Glück gibt es neben diesen längere Szenen, die Hektik, Aktionismus, Rücksichtslosigkeit und Aggressivität ausstrahlen, auch gelegentliche Ruhepausen, in denn fast gar nichts passiert, denn sonst würde man nur noch aufgeputschter aus dem Film herauskommen. Zwischen den Unfällen und den Einsätzen, die daraus resultieren, muss Zeit totgeschlagen werden — viel Zeit, die sich Josué mit dem Fußball vertreibt, während Juan mit seiner Freundin telefoniert und ihr die bizarrsten Vorkommnisse und Verletzungen haarklein am Telefon berichtet und Fer Schnulzen intoniert.

Weitere Brisanz bekommt der Film durch die derzeitige Covid-19-Pandemie. Denn auch wenn es in Mexiko den prinzipiellen Anspruch auf medizinische Versorgung gibt, ist das Gesundheitssystem so ausgedünnt und sich selbst sowie den Gesetzen des ach so freien Marktes überlassen, dass man sich über das zumindest fragwürdige, manchmal aber auch schlicht kriminelle Treiben der privaten Krankentransporter kein bisschen wundert. 

3 Jahre lang hat Luke Lorentzen die Ochoas mit der Kamera begleitet und dabei per Zufall so manche Szene eingefangen, die dem Ganzen immer wieder auch heitere Momente beschert, wenn etwas eines Nachts das Benzin ausgeht und der ganze Clan das Rettungsfahrzeug zur nächsten Tankstelle schieben muss, um anschließend wieder bereit zu sein für den nächsten Einsatz auf Leben und Tod.

Auch wenn Midnight Family so vor allem im sehr spezifischen Umfeld des mexikanischen Gesundheitswesens angesiedelt ist, so erzählt der Film dennoch universell und exemplarisch von den Verheerungen einer überwiegend privatisierten und an den Gesetzen des Neoliberalismus  orientierten medizinischen Versorgung, von der wir in Deutschland gottlob noch weit entfernt sind.  Wir sollten nur darauf achten, dass das auch so bleibt.

Midnight Family (2019)

„Midnight Family“ erzählt von der Familie Ochoa in Mexico City, die ein privates Rettungssanitäter-Unternehmen betreibt und Nacht für Nacht darum kämpft, als erste am Ort des Geschehens zu sein. Doch um in dem beinharten Business zu bestehen, muss man gnadenlose Konkurrenzkämpfe ebenso aushalten wie die zutiefst korrupte Polizei, die versucht, ihren Schnitt bei der Sache zu machen.

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