Log Line

Die wahre Geschichte einer deutsch-lettischen Stummfilmdiva unter dem Terror Stalins wird in „Maria’s Silence“ zu einem historischen Lehrstück über die Aggressionen, die auch heute wieder von russischem Boden ausgehen.

Maria’s Silence (2024)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Der Terror kommt im Lieferwagen

Die ehemalige Stummfilmdiva Maria (Olga Šepicka-Slapjuma) ist 1935 auf dem Weg in die Sowjetunion, um ihre neugeborene Enkeltochter nach Europa zu holen, deren Mutter bei der Geburt gestorben ist. Bis ihre Papiere fertig sind, dauert es eine Weile, und so lässt sich die zunächst unwillige Maria überreden, in Moskau ein Gastspiel am lettischen Theater Skatuve (Die Bühne) zu geben. Sie bekommt eine soeben unter mysteriösen Umständen frei gewordene Wohnung im Stadtzentrum und ein fleißiges Kindermädchen zugeteilt und verzichtet wohlweislich darauf, Fragen zu stellen.

In Maria’s Silence erzählt der lettische Regisseur Dāvis Sīmanis die wahre Geschichte vom letzten Kapitel im Leben seiner Landsfrau Marija Leiko, die nach ihrem Anfang an verschiedenen europäischen Theaterhäusern von 1917 bis 1928 eine Filmkarriere in Deutschland hinlegte. Sie spielte im Detektivfilm Die Diamantenstiftung, in F.W. Murnaus Historienfilm Satanas oder in der 1919er-Version von Lola Montez, bevor sie sich mit dem Ende der Stummfilmära wieder dem Theater widmete, an einer lettischen Bühne in Moskau gastierte und dort schließlich Stalins Großem Terror zum Opfer fiel.

Zugegeben: Bevor ich Maria’s Silence gesehen habe, wusste ich nichts über die reale Marija Leiko. Mit Beginn des Films dauert es allerdings nicht lange, bis sich das Ende abschätzen lässt. Das ist vielleicht auch sein Manko; es gibt hier keine Überraschungen, keine doppelten Böden, nur ein so langsames, wie unaufhaltbares in die Falle gehen. Von der ersten Szene an, in der Leiko mit dem Zug die Grenze zur Sowjetunion überquert, ist ihr Unbehagen offensichtlich. Der Tod ihrer Tochter wirkt wie ein böses Omen und der hochrangige sowjetische Geheimpolizist, der sich zunächst an sie heran wanzt, hat trotz seiner Avancen die Aura eines Bluthundes. Maria’s Silence kündigt die Hölle an und exerziert sie anschließend ohne Abweichungen vom Protokoll durch.

Was Dāvis Sīmanis dabei aber sehr effektiv umsetzt: Die zunächst fein säuberlich voneinander getrennten Realitätssphären nach und nach miteinander zu vermengen. In kurzen Vignetten fängt er Straßenszenen aus Moskau ein, die das ohnehin düstere Schwarzweiß des Films kaum noch trostloser erscheinen lassen könnte. Raubüberfälle, Willkür und Gewalt sind an der Tagesordnung, die Lebensmittelknappheit sorgt für lange Schlangen vor den Geschäften und schließlich ist es ausgerechnet ein Lieferwagen mit der Aufschrift „Brot“, mit dem die Leute nachts aus ihren Wohnungen gezogen und auf Nimmerwiedersehen davon gekarrt werden. Später wird ein solcher Lieferwagen noch häufiger für Sekundenbruchteile durch das Bild fahren und wie bei einer erfolgreichen Konditionierung wird der kurze Anblick ausreichen, um im Publikum ein Gefühl der Paranoia, eines unmittelbar drohenden Schicksals auszulösen.

Das Leben der Marija Leiko bleibt von dieser hässlichen Realität zunächst scheinbar unberührt. Sie verlässt sich auf den Schutz des ihr zugeneigten Geheimpolizisten, probt für ihre Rolle, legt Diva-Attitüden an den Tag, glaubt fest an die Unantastbarkeit der Kunst. Bis das NKWD die sogenannte Lettische Operation startet und unter fingierten Vorwürfen der Spionage nach den Deutschen und Polen nun auch beginnt, die ethnischen Letten abzuholen, bis also eine Realität brutal zu der anderen durchbricht. Und so steht der Lieferwagen eines schneereichen Winterabends auch vor dem Theater.

Maria’s Silence mag ein handwerklich nicht perfekt ausgereifter Film sein, aber er wächst mit der Zeit und entwickelt gerade auch unter dem Eindruck des russischen Angriffskrieges in der Ukraine und der damit verbundenen Drohgebärden eine unbestreitbare Dringlichkeit.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

Maria’s Silence (2024)

1937 ist die Moskauer Kunstszene im schwebenden Einverständnis mit der Sowjetmacht. Unberührbar wähnt sich auch die Lettin Maria Leiko und spielt – ahnungslos – die Rolle ihres Lebens: ein unschuldiges Opfer. Eine Geschichtsallegorie von Aktualität. (Quelle: Berlinale)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen