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Ein Bauarbeiter begegnet zufällig einer Moos-Forscherin und ist fasziniert von ihrem Blick auf die Welt. Regisseur Bas Devos erzählt von zwei Menschen in Übergangsstadien, die zwar entwurzelt durchs Leben gleiten, aber nicht unbedingt darunter leiden.

Here (2023)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Noch viel genauer hinschauen

Jetzt gerade, in diesem Moment, lesen Sie diesen Text. Geschrieben wurde er früher, am 29.10.2023, um 10:28 Uhr, im Wissen um einen zukünftigen Leser. Schon eine simple Filmkritik verstreut sich selbst wirr über die Kategorien von Zeit, die unsere temporale Welt ordnen. Es ist offenkundig nicht einfach, in der Gegenwart zu leben, im Hier und Jetzt. Das Leben zerrt uns unentwegt überallhin, alles wirkt nach oder wird antizipiert. Davon sind auch ganze Reihen von Ratgeberbüchern und Gurus überzeugt, die das Leben im Moment predigen. Oder die vielen Filme, die angestrengt nach dem Augenblick greifen, die unbedingt jetzt und hier spielen wollen, als könnten wir den Kinosaal verlassen und den Figuren draußen über den Weg laufen.

Auch Here von Bas Devos ist sicher einer dieser Filme, die sich unmittelbar für die Welt öffnen. Das Kino des flämischen Filmemachers arbeitet mit Gefundenem, mit Laiendarstellern und städtischem Alltag. Er sucht in vertrauter Umwelt nach schwer Greifbarem: Nach Stimmungen, Atmosphären, Resonanzerfahrungen. Nach Leben, die er begleiten und deuten kann. Es gibt eine Handlung, aber die besteht vor allem in der Begegnung zwischen zwei Menschen, das ist genug. Der rumänische Bauarbeiter Stefan (gespielt von Stefan Gota) wird bald in den Urlaub fahren, muss aber noch sein Auto auf Vordermann bringen und den Kühlschrank ausleeren. Er überlegt, vielleicht in Rumänien zu bleiben. ShuXiu (Liyo Gong) erforscht Moose und doziert über Biologie, außerdem hilft sie in einem kleinen chinesischen Restaurant aus. 

Zwischen den beiden entbrennt keine große Liebesgeschichte, sondern höchstens eine zarte Freundschaft, die aus einem ähnlichen Blick auf die Welt erwächst. Stefan trifft ShuXiu, als sie gerade in einem Waldgebiet Moose unter der Lupe betrachtet. Ein verborgener Mikrokosmos von großer Schönheit. Er begleitet sie und blickt mit ihr in die grüne Parallelwelt. Wir wissen nicht, was genau diese neue Perspektive für ihn bedeutet, was er entdeckt. Ohnehin rücken wir ihm nie zu nah. Die Menschen dürfen bei Devos Geheimnisse bleiben. 

Höchstens da, wo sie mit anderen in Kontakt treten, werden sie greifbar. Im Intersubjektiven, Zwischenmenschlichen. Treffen mit Verwandten und Freunden werfen Schlaglichter auf ihre persönlichen Netzwerke. Der Film trägt die Hoffnung in sich, dass aller Vereinzelung und Atomisierung zum Trotz noch ein utopisches Moment in Interaktionen liegt. Auch in denen, die eigentlich rein transaktional sind, in denen Objekte und Geld zwischen den Menschen vermitteln. Etwa, wenn Stefan sein Auto abholen will und zufällig noch Suppe aus seinem Kühlschrank dabeihat. Plötzlich kann er sein Auto einen Tag früher abholen und man verbringt einen erstaunlichen Moment der Ruhe. Stefan im Gras mit drei Mechanikern, einmütig, locker im Bildrahmen arrangiert. Oder er spricht mit einem Freund Cedric (Cedric Luvuezo) über dieses und jenes, bis das Licht der aufgehenden Sonne sie weitertreibt. 

Stefan und ShuXiu führen recht einsame, aber dadurch nicht automatisch trostlose Leben. Das Brüssel, in dem sie Devos verortet, ist ja ohnehin merkwürdig leer. Als wäre noch mitten am Tag diese Übergangszeit spät in der Nacht, wenn sich langsam der Morgen ankündigt und die sonst omnipräsenten Massen nirgendwo zu entdecken sind. Jeder Kontakt bekommt so eine besondere Intensität. Sie sind moderne Großstadtmenschen und haben Migrationserfahrungen gemacht, in einer der vom Film etwas forcierten Botanik-Metaphern könnte man sagen: Sie sind entwurzelt. 

Moose können fast überall überleben, auch da, wo andere Pflanzen sofort verblühen und eingehen. Sie leben mit widerständiger Genügsamkeit. Der Film versucht Entwurzelung nicht als hilfloses Treiben durch die Welt zu zeigen, sondern als einen sanften Schwebezustand. Er gleitet von Bild zu Bild ohne großen Antrieb, schaut eher nach innen als nach vorne. Er zeigt Menschen ohne viel Kontext, deren Welt sich immer aus dem Moment erklären muss. 

So kann man vielleicht von Entwurzelten erzählen, wo doch Entwurzlung oft auch einen Verlust von Geschichten und festen Bezugsstrukturen bedeutet. Der Fokus auf das Hier und Jetzt als Folge eines Lebens, dessen Vergangenheit und Zukunft oftmals nicht ewig weit reicht.

Es ist ein Rhythmus, den man auch von früheren Devos-Filmen wie Ghost Tropic kennt. Der Plot ist ein Angebot an die Figuren. Man glaubt gerne, dass sie auch einen anderen Pfad hätten wählen können, weil kein Bild stark über das nächste dominiert. Sie haben kein konkretes Ziel, sondern wollen erst eines entdecken. Manchmal setzt die Handlung minutenlang aus, und Naturaufnahmen füllen die Leinwand. Der Blick der Figuren wird unserer, wir sehen die Welt ein wenig anders. Das 4:3-Format des Films mag auf Zuschauer in der Regel beengend wirken, hier visualisiert es vor allem eine besondere Konzentration.

ShuXiu schaut genauer hin, und so sehen auch wir Detailaufnahmen von Gräsern, Moosen und Blattwerk. Würden die Menschen danach nicht wieder in den Film zurückkehren, man würde sie kaum vermissen. Sie kommen auch ohne den Blick der Kamera zurecht. Wenn sie in den Kompositionen fragmentiert auftauchen, nur noch als Füße oder Hände, dann könnten sie manchmal fast selbst Pflanzen sein. Wie die fiktive Pflanze, die eine von ShuXius Studentinnen für eine Seminaraufgabe erfindet: eine Art Seerose mit dünnen Wurzeln, die sich von steigendem Wasser mittreiben lassen kann, nur um dann neue Verknüpfungen zu bilden.

Natürlich weiß Devos auch um die Sorgen und Zweifel seiner einsamen Figuren. Gerade in ihren Voice-overs, die die sonst eher stille Filmwelt füllen, werden ihre Ängste und Sorgen angedeutet. ShuXiu wird mit einem Monolog vorgestellt, in dem sie beschreibt, wie ihr eines Morgens die Worte für die Dinge fehlten. Ihre Sprache ist ihr abhandengekommen. Erst nach und nach findet sie zu ihr zurück. Es scheint eins der Projekte von Devos‘ Kino zu sein: Wie den Dingen begegnen, für die wir keine Worte haben? Wie den Worten entgehen, die wie Beton sind? In Here begreift er Sprachlosigkeit als Möglichkeit, sich den Dingen ohne Vorurteile zu nähern. Stille als Versprechen auf etwas Neues.

Here (2023)

Der in Brüssel lebende rumänische Bauarbeiter Stefan steht vor der Rückkehr in die Heimat. Aus Kühlschrankresten kocht er zum Abschied eine große Suppe für Freund*innen und Familie. Kurz vor der geplanten Abreise begegnet er jedoch einer jungen Frau mit belgisch-chinesischen Wurzeln, die in einem kleinen Restaurant jobbt und über Moose promoviert. Ihr Interesse für etwas beinahe Unsichtbares macht ihn sprachlos. (Quelle: Berlinale)

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