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In „Hausnummer Null“ begleitet Lilith Kugler einen drogenabhängigen Wohnungslosen in Berlin.

Hausnummer Null (2024)

Eine Filmkritik von Anke Zeitz

Die große Angst, vergessen zu werden

Das Leben obdachloser Menschen ist hart. Und es braucht wahrscheinlich keinen Film mehr, ob dokumentarisch oder fiktional, um diesen Fakt zu untermauern. Doch manchmal gelingt es Filmen, die sich mit einem solchen Thema auseinandersetzen, die Schicksale der Protagonisten wahrhaftig näherzubringen. Auf eine Art, die nichts mit draufschauender „Elendspornografie“ zu tun hat, sondern sich auf Augenhöhe des Gezeigten begibt. Empathisch, einfühlsam und eindringlich. „Hausnummer Null“ von Lilith Kugler ist so ein Film, in dem es um Chris geht, der als drogenabhängiger Mann Mitte Dreißig in Berlin seit vielen Jahren auf der Straße lebt. Und der zerrissen scheint zwischen dem Wunsch, von den Drogen loszukommen – und der Unmöglichkeit, diesen Wunsch Wirklichkeit werden zu lassen.

Am Anfang ist Chris nur zu hören und nicht zu sehen. Lilith Kugler, die den obdachlosen Mann kennengelernt hat, als sie selbst nach Berlin gezogen ist, fragt, ob er sich ein Leben ohne Drogen und mit fester Bleibe überhaupt vorstellen könne, während die Kamera auf den Boden einer schmierigen öffentlichen Toilette gerichtet ist. Natürlich könne er sich das vorstellen, aber was das denn jetzt solle, fragt er. Und dann sieht man Chris‘ Gesicht. Ausgemergelt, die Augen auf den Joint in seinem Mund gerichtet, die Stimme leicht fahrig und abweisend. Aber dann lässt er sich doch auf die Frage ein. In einem anderen Leben wäre er Labortechniker, hätte eine Familie – und wöge „20 Kilo mehr“. Schon in dieser ersten Sequenz macht Lilith Kuglers Film, der auf dem diesjährigen Max-Ophüls-Festival im Dokumentarfilmwettbewerb seine Premiere feierte, alles richtig, indem er Chris selbst die Richtung des Gesprächs vorgeben lässt.

Die Kamera ist oft sehr nah bei Chris und zeigt einen jungen Mann, dessen Blicke zwischen misstrauisch und zurückhaltend hin- und herschweifen. Seine Sprache ist oft wirr, doch immer blitzen kluge Selbstreflektionen hervor. Seine wenigen Besitztümer – Decken, ein Paar Schuhe, zerfledderte Bücher, ein bisschen Geschirr – versucht er ordentlich zusammenzuhalten, regelmäßig kehren er und sein „Straßenkumpel“ Alex in die Unterführung der U-Bahnhaltestelle Friedenau zurück, wo sie schlafen und sich darum bemühen, dieses „Zuhause“ sauber zu halten. Die Versuche, Chris von der Straße zu holen, gibt es wiederholt. Kugler interviewt Menschen, die in der Nähe leben und die Chris helfen, ihm Essen und Tee bringen, ihn in einer städtischen Einrichtung unterbringen wollen. Die Institutionen selbst belässt der Film am Rand, deutet die Hilflosigkeit des Systems zwar an, ohne direkte Schuldzuweisungen auszusprechen. Denn am Ende des Tages, so sagt es auch Alex, muss Chris es „einfach selbst wollen“.

Dass sich hinter dem Chris, der auf der Straße lebt, auch ein schutzbedürftiges Kind, aber auch ein Vater verbirgt, der seinen 11-jährigen Sohn noch nie gesehen hat, lässt der Film Chris selbst erzählen, ohne investigativ nachzubohren. Immer scheint Kugler ein genaues Gespür für ihr Material und die Protagonisten zu haben. Da gibt es den Besuch in Chris‘ Heimatort in Schwaben, bei dem Chris und seine Mutter sich erinnern, wie er eigentlich an den Tiefpunkt gelangt ist, an dem er sich nun seit Jahren befindet. Als ADHS-Kind, das mit Ritalin ruhiggestellt wurde, als Kind, das mit Wutausbrüchen kämpfte, in verschiedenen Einrichtungen war, ein Kind, das sich zu einem jungen Mann ohne wirklichen Halt entwickelte. Die Mutter gibt sich die Schuld für Chris‘ Schicksal, doch er weist das entschieden zurück.

Diese Sequenz steht beispielhaft für die gelungene Balance des Films zwischen Berührt- und Erschüttertsein, ohne beide Emotionen zu überspitzen. Dass der Film keine stringente chronologische Erzählung bietet, kommt Chris‘ Wesen sehr nah, der sich, einer Berg- und Talbahnfahrt gleich, mal in der Substitution befindet, mal wieder auf der Straße, um Geld für Drogen zu beschaffen. Das Bemühen einzelner Menschen um sein Wohlergehen berührt – doch man spürt auch, dass dieses Bemühen Chris auch unter Druck setzt. Denn, so schätzt er es ganz richtig ein, er möchte ja, aber ob er es auch kann?

Auf der Bildebene (Bildgestaltung: Stephan M. Vogt) erschafft der Film eine kongeniale Verbindung zwischen Chris‘ Persönlichkeit und seiner Umgebung. Die Rolltreppen der U-Bahn, die verlassen und immer kalt wirkende Unterführung, leere Ladenfenster. Alles wirkt traurig kaputt, aber doch aufgeräumt in der Klarheit der Linien. Die Musik von Valeria Khazan und das Sounddesign von Tobias Adam halten sich angenehm zurück und sind in ihrer Mischung aus elektronischen und disharmonischen Klängen die geeignete Untermalung der ausdrucksstarken Bilder.

Am absoluten Tiefpunkt – einer Einweisung in eine Klinik nach einer Überdosis – scheint Chris doch die Kehrtwende einschlagen zu wollen. Der Nachbar, der Chris nun mehr und mehr auch in seine Familie aufnimmt, besorgt ihm eine Wohnung und bringt ihn in eine neue Substitutionsmaßnahme. Chris bekommt neue Zähne, richtet sich häuslich ein, nimmt wieder am sozialen Leben teil. Dazu gibt es kurze hoffnungsvolle Bildmotive wie die „Einzugspflanze“ auf Chris‘ Fensterbank, die wächst und gedeiht, daneben ein Bild von seiner Mutter. Und immer wieder erzählt Chris von seinem größten Wunsch, mit seinem Sohn Kontakt aufzunehmen.

Am Ende des Films stellt Kugler Chris die Frage nach seiner größten Angst. „Vergessen zu werden“, gibt er zu. Hausnummer Null ist eine Einladung an das Publikum, genau das nicht zu tun. Weil er durch seine klare, empathische Erzählweise daran erinnert, dass sich hinter jedem Menschen, der uns begegnet, eine Geschichte verbirgt. Die es verdient hat, mit Respekt und ernsthaftem Interesse gehört und erzählt zu werden.

Hausnummer Null (2024)

Als die Regisseurin zum Filmstudium nach Berlin kommt, ist der obdachlose Chris der Erste, der sie willkommen heißt. Chris lebt gemeinsam mit seinem Kumpel Alex an einer S-Bahn Station im Zentrum der Hauptstadt, umsorgt von der gesamten Nachbarschaft. Doch er ist suchtkrank und schafft es nicht, sich aus dem Teufelskreis zu befreien. Als es ihm schlechter und schlechter geht und er nur knapp dem Tod entkommt, beschließt er, dass er weg muss von der Straße und weg vom Heroin. Aber wohin? Wie kann ein junger Mann in unserer Gesellschaft seinen Platz finden, obwohl er seit Kindesalter nie irgendwo hingepasst hat – oder passen wollte? (Quelle: Max Ophüls Preis 2024)

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