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Der Dokumentarfilm „Dreamers“ erzählt von einem unfreien Leben im „Land of the Free“.

Dreamers (2023)

Eine Filmkritik von Patrick Torma

Ein amerikanischer Albtraum

3.145 Kilometer Grenze liegen zwischen Mexiko und den USA – ein Spannungsfeld, in dem womöglich die nächste US-Präsidentschaft entschieden wird. Nachdem Trumps Mauer Stückwerk blieb und die Zahl derer, die inoffiziell in die USA einreisen, unter Amtsinhaber Joe Biden in die Höhe geschnellt ist, flammen die Rufe nach einer deutlich restriktiveren Migrationspolitik wieder auf. Die Menschen, die diese Politik betrifft, gehen in diesem Gebell meist unter. Mit ihren Dokumentarfilmen wollen Stéphanie Barbey und Luc Peter ein Gegengewicht schaffen. Dass es dabei einseitig zugeht, ist nur folgerichtig. Und doch etwas zu wenig.

Bereits 2014 hielten die schweizerischen Filmemacher:innen in Broken Land die Geschichten von sieben Amerikaner:innen fest, deren Leben vom Grenzzaun maßgeblich beeinflusst wird. In Dreamers zieht es das Doku-Duo nun auf die andere Seite der Staaten, wo sich die Sorgen allerdings keineswegs verflüchtigen. Im Gegenteil: In Chicago lebt Carlos als Kind undokumentierter Einwanderer einen amerikanischen Albtraum. Seine Familiengeschichte steht exemplarisch für zweieinhalb Millionen Leben, die minderjährig in die USA kamen und dort aufwuchsen, jedoch kaum Aussicht auf einen US-Pass haben. Mit dieser Aussichtslosigkeit gehen gesellschaftliche Ausgrenzung, eine unsichere Zukunft und die ständige Angst vor einer möglichen Abschiebung einher.

Mit neun bestieg Carlos den Flieger, der ihn und seine drei Brüder in die Staaten brachte. „Wir machen Urlaub“, gaben die Eltern vor. Als sie in den USA ankamen, stellte sich bald heraus, dass es keine Rückkehr in die Heimat geben würde. 30 Jahre später steht Carlos mitten im Leben – und doch daneben. Er hat die Highschool abgeschlossen und einen Job im Baugewerbe, zahlt Steuern, baut Schulen, Wohnhäuser und Bahnhöfe. Kurz: Er bringt die US-Infrastruktur auf Stand, ist systemrelevant. Er sei „in jeder Hinsicht amerikanisch“, sagt Carlos von sich selbst. „Nur nicht auf dem Papier.“

Die Folgen dieser Nicht-Anerkennung zeichnet der Film anhand der Geschichte von Carlos‘ Familie nach. Diese ist von einem Trauma gekennzeichnet: So ist George, der älteste Bruder, vor 15 Jahren abgeschoben worden. Seitdem lebt Jesus, der Zweitälteste, in ständiger Angst. Er verlässt lediglich zum Arbeiten und Einkaufen das Haus, um bloß nicht aufzufallen. Eine Lappalie wie ein kaputtes Bremslicht, fürchtet er, könnte ihn im wahrsten Sinne des Wortes aus dem Verkehr ziehen. Einzig „Küken“ Julio hat es geschafft, per Heirat zum US-Bürger „aufzusteigen“. Carlos selbst ist, unter diesen erschwerten Bedingungen, ums eigene Familienglück bemüht. Gleichzeitig belastet es ihn, seinen älteren Bruder allein auf der anderen Seite der Grenze zu wissen. Ein Familienbesuch in Mexiko ist jedoch undenkbar. Würde Carlos die USA verlassen, wäre das Risiko zu groß, dass er sie nie wieder betreten wird.

Dreamers nimmt uns mit in eine Gedanken- und Gefühlswelt zwischen Hoffen und Bangen. Alles erfahren wir aus erster Hand. Wir begleiten Carlos, der auch als Erzähler fungiert und uns schon bald mit seiner ruhigen, fast mantraartigen Stimmlage vertraut vorkommt, durch eine Reihe von sehr intimen Begegnungen. Etwa besuchen wir die Familie, die der abgeschobene George in den USA zurücklassen musste.

Dazu passt, dass die Kamera ganz dicht an die Menschen herangeht. Diese Nähe wird nur vorübergehend unterbrochen, um den Blick aus Sicht der Protagonisten schweifen zu lassen. In diesen Schwenks verbirgt sich der Traum von einer besseren, weil sicheren Zukunft – der aber, in schwarz-weiß gehalten, reichlich verwittert anmutet. Gleichzeitig sorgt der Verzicht auf Farbe dafür, dass sich das Dilemma deutlich abzeichnet. Die Porträtierten in Dreamers bewegen sich in einer Zwischenwelt, Carlos spricht von einem Leben im Schatten. Das engste Umfeld ist Rückzugsort und Gefängnis gleichermaßen. Lebensfreude und Depression liegen hier nahe beieinander.

Nach und nach fühlen wir uns in diesen Inner Circle aufgenommen, sind auf Geburtstagen und bei anderen besonderen Anlässen dabei. Empathie und Bewusstsein für die Problemlage stellen sich ein. Allerdings auch das Gefühl, dass der Film schon weit vor Ablauf seiner verhältnismäßig kurzen Spieldauer von etwas mehr als 80 Minuten zu seinem Kern vorgedrungen ist. Ab einem gewissen Punkt fallen zudem Leerstellen ins Auge. Einzelne familiäre Enthüllungen verlangen weitere Einordnung – die Carlos allein jedoch nicht leisten kann. Dafür ist er zu befangen. Wir bekommen nur eine Seite der Medaille präsentiert.

Dies mag dem Ansinnen der Autor:innen entsprechen: Den Betroffenen eine Stimme zu geben. Dreamers ist ein filmisches Fallbeispiel, das keinen Anspruch auf Ausgewogenheit erhebt. Ihre Filme seien keine „reinen“ Dokumentationen, gaben Stépahie Barbey und Peter Luc in einem Interview zu Protokoll. Das merkt man: So manches Gespräch in Dreamers ist offensichtlich inszeniert. Dadurch bleibt ein narrativer Flow gewahrt. Und doch wäre es für das Verständnis hilfreich, wenn sich der Film hin und wieder in die Vogelperspektive begeben würde.

Dass sich die in den USA geläufige, für die Kinder irregulärer Einwander:innen verwendete  Bezeichnung „Dreamers“ etwa aus dem sogenannten DREAM Act ableitet, (ein Gesetzesentwurf, der um die Jahrtausendwende Hoffnung auf eine Einbürgerung nährte, letztlich jedoch abgelehnt wurde) findet nur am Rand Erwähnung. Gegenwärtige aufenthaltsrechtliche Entwicklungen, beispielsweise rund um das umstrittene DACA-Programm, spart der Film ganz aus.

Aber: Durch das Fehlen aktueller Bezüge bleibt Dreamers wohl leider noch eine Zeit lang aktuell. Und um die Sorgen der Personen im Film zu verstehen, braucht es ohnehin keinen Vertiefungskurs in Sachen US-Bleiberecht. Sofern man das entsprechende Vorwissen nicht mitbringt – und das dürfte aus europäischer Perspektive wohl eher die Regel sein –, gilt: Wer mehr über die Thematik wissen möchte, schlägt hinterher nach. Ob trotz oder wegen seines erzählerischen Tunnelblicks: Dass er das Interesse dazu weckt, spricht für Dreamers.

Dreamers (2023)

Im Alter von neun Jahren kommt Carlos mit dem Rest seiner Familie aus Mexiko nach Chicago. An seinem achtzehnten Geburtstag wird seine Zukunft ungewiss. Nach dem Gesetz der Vereinigten Staaten wird er zum Sans-Papiers. Der amerikanische Traum verwandelt sich in einen Albtraum. Der kleinste Fehler kann ihn zur Abschiebung führen. Zwischen Erfolgen und Niederlagen erzählt der Film die Geschichte des heute achtunddreissigjährigen Carlos, seiner drei Brüder und des Schicksals von zweieinhalb Millionen Menschen, die in einem Land aufwachsen, das sie noch immer nicht als die Seinen anerkennt. (Quelle: Swiss Films)

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