Der Fremde am See (2013)

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

In der Hitze einiger Sommernachmittage

Woher sie kommen, welche Berufe sie haben, in welchem Umfeld sie sich bewegen – das alles ist ausgeblendet in der Hitze jener Sommernachmittage, von denen Alain Guiraudie in seinem Film Der Fremde am See erzählt. Der Film, der 2013 in Cannes in der Reihe „Un certain regard“ zu sehen war, beschränkt sich allein auf den Handlungsort des Seeufers, an dem sich die schwule Community der Gegend zu Flirtereien und zu schnellem Sex in den benachbarten Wäldern trifft, bis der erotische Reigen seine dunklen Schattenseiten offenbart.

Auf der einen Seite des Sees irgendwo in Frankreich gibt es die „Normalos“, die aber mit einer vermeintlichen oder tatsächlichen Ausnahme keine Rolle spielen. Auf der anderen Seite treffen sich die schwulen Männer, die an dem Steinstrand oben und unten ohne baden und sich ab und zu mehr oder weniger diskret in den angrenzenden Wald zurückziehen, um dort miteinander Sex zu haben. Franck (Pierre Deladonchamps) ist einer dieser Männer, der hier die Nachmittage verbringt. Über sein Vorleben erfahren wir so gut wie nichts, es ist beinahe so, als existiere er außerhalb der Szenerie am See, in der der Film ausschließlich spielt, gar nicht — ebenso wenig wie die anderen Männer, die er hier Tag für Tag trifft. Da ist beispielsweise Henri (Patrick D’Assumaco, der fast ein wenig aussieht, als sei er der jüngere Bruder von Gérard Depardieu), der hier seine Tage verbringt — immer ein wenig abseits der anderen, weil er mit dem Treiben in den Wäldern nichts am Hut hat und einfach nur die Zeit totschlagen will. Ganz anders ist da Michel (Christophe Paou, bei dessen Anblick man unwillkürlich an Tom Selleck in seiner Rolle als Magnum denken muss), der mit Abstand attraktivste der Männer — und womöglich auch der gefährlichste. Denn eines Tages verschwindet ein Mann, mit dem Michel bis spät in den Abend am See war. Als dessen Leichnam aus dem See geborgen wird, keimt nicht nur bei der Polizei der Verdacht, dass Michel an dem Tod seines Lovers schuld sein könnte. Auch Franck ist misstrauisch geworden, doch zu diesem Zeitpunkt ist er längst verliebt in Michel, der jedoch gar nichts von sich preisgeben mag und der darauf besteht, dass es keinen weiteren Kontakt zwischen den beiden gibt.

Ziemlich explizit ist Der Fremde am See geraten, es gibt kaum eine Szene, in der nicht ein männliches Geschlechtsteil durchs Bild baumelt oder gerne auch mal in vollem Einsatz gezeigt wird. Selten sah man schwulen Sex abseits rein pornografischer Produktionen so offen und freizügig umgesetzt wie in diesem Film. Überhaupt ist die sommerlich aufgeheizte, erotisch aufgeladene Atmosphäre einer der großen Trümpfe des Films, dem die Kamerafrau Claire Mathon großartige Bilder verleiht, bei denen immer wieder Blickachsen als Ausdruck der zwischenmenschlichen Emotionen zwischen Begehren, Voyeurismus, Angst, Misstrauen und Abscheu etabliert werden. Auch die ständig wiederkehrenden Einstellungen des Parkplatzes, die das mittägliche Ankommen der Autos und das nächtliche Verlassen der Wagen zeigen und damit bereits erahnen lassen, welche Beziehungen sich zwischen den einzelnen Männern entwickelt haben, gehören zu den gelungenen Gestaltungselementen.

Problematischer sind hingegen die Zeichnungen einzelner Beteiligter – und es sind vor allem zwei Figuren aus dem Ensemble, die dabei auf recht ähnliche Weise herausragen: Da ist zum einen der ermittelnde Kommissar, der mit hinter dem Rücken verschränkten Armen linkisch durchs Unterholz stolpert und der beinahe schon an Peter Falks Darstellung des gerade in seiner trotteligen Art enorm durchtriebenen Inspector Colombo erinnert. Kann man dieser Gestalt gerade aufgrund der Traditionslinie vermeintlich zerstreuter Ermittler immerhin noch einigen Respekt entgegenbringen, gerät der notorische Spanner, der sich völlig ungeniert neben die kopulierenden Pärchen stellt, leider zu einer Karikatur, deren wiederholte Dreistigkeiten sich als „running gag“ schnell erschöpfen.

Und schließlich wundert man sich ebenso wie der Kommissar schon ein wenig darüber, warum niemand das Verschwinden von Michels Liebhaber bemerkt haben will. Denn immerhin wird das verlassen daliegende Handtuch und die Schuhe sowie das über Tage auf dem Parkplatz stehende Auto des Opfers überaus plakativ ins Bild gerückt. Wenn Michel am Ende mit dem Messer auf Menschenjagd geht, um sein wie auch immer geartetes Geheimnis um jeden Preis zu schützen, ist dies eine letzte Wendung ins Absurde, die dem Film einiges von seinem anfänglichen Reiz nimmt — wenn man von den reichlich zur Schau gestellten sexuellen Reizen einmal absieht.

Der Fremde am See (2013)

Woher sie kommen, welche Berufe sie haben, in welchem Umfeld sie sich bewegen – das alles ist ausgeblendet in der Hitze jener Sommernachmittage, von denen Alain Guiraudie in seinem Film „Der Fremde am See“ erzählt.

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