Log Line

In Tian Xiaopengs „Deep Sea“ tauchen wir in die Fantasiewelt der jungen Shenxiu ein – und stoßen dort bei aller Farbenfreude auch an Grenzen.

Deep Sea (2023)

Eine Filmkritik von Patrick Fey

Die ganze Welt ist bunt

Es ist vermutlich nicht zu hoch gegriffen, den Kinderfilm als das für die Filmkritik undankbarste Genre zu bezeichnen, wohnt doch einer jeden solchen Kritik ein gebrochenes Kommunikationsverhältnis inne. Man formuliert eine Antwort auf eine gar nicht an einen selbst gerichtete Frage und adressiert diese dann in der Folge dann an alle anderen Personen, deren Meinung zum besagten Film ebenfalls zu vernachlässigen ist. Die Diskrepanz zwischen der impliziten Leser*innenschaft und dem Zielpublikum des Filmes sticht ebenso ins Auge wie die Tatsache, dass die kindliche Wahrnehmung der mit der Analyse und Beurteilung betrauten Person mit jedem Tag ein wenig fremder wird und ihr etwaiger Versuch, eine solche Rezeptionshaltung anzunehmen sich mit jedem Tag mehr der Fabulation annähert.

Es ist ein zum Scheitern verurteilter Versuch, bei dem die offene Beschränktheit einer kindlichen Rezeptionsweise mit der beschränkten Offenheit der kritischen Rezeptionsweise kollidiert. Denn während das Kind, obgleich nur bedingt in der Lage, das Werk filmhistorisch zu situieren und dessen ästhetische Wirkungsweise mitsamt kultureller und politischer Implikationen zu begreifen, den Film auf weitaus unmittelbarere Weise – gewissermaßen vor dem Benennen und der Einordnung – erlebt, haben Filmkritiker*innen sich im Laufe ihres Lebens im Allgemeinen und ihrer Tätigkeit als Kritiker*innen im Speziellen einen Erfahrungs- und Erwartungshorizont erarbeitet, der sie in ihrer Empfänglichkeit einschränkt, gleichzeitig aber erst eine aufgeklärte Betrachtung ermöglicht.

Wenn sich der bzw. die Kritiker*in nun einem Kinderfilm widmet, liegen zwei Rezeptionsweisen nahe: Entweder, der bzw. die Kritiker*in versucht, die eigene Person zu vergessen und in der Hoffnung auf ein „pures“ Kinoerlebnis die beneidenswert unbedarfte Erfahrung eines Kindes zu imitieren, oder er/sie setzt sich daran, das Werk (womöglich auf Kosten der eigenen Unterhaltung) innerhalb einer auf komplexe Weise kartographierten Welt zu verorten. Anhand Tian Xiaopengs Deep Sea lässt sich dieser Zwiespalt hinreichend illustrieren. Zum Film befragt, gibt dessen Produzent Yi Qiao zu Protokoll: „Kinder lieben phantasievolle Welten – erleben ist für sie wichtiger als verstehen“ und drückt damit doch nur die halbe Wahrheit aus. Denn unbedarft oder nicht, die Absolutstellung der kindlichen Erfahrung übersieht doch einen entscheidenden Punkt: Nicht nur bilden Erleben und Verstehen keine einander ausschließenden Akte, oftmals ist es gerade die Erfahrung, die uns verstehen lässt, was kognitiv längst begreifbar gewesen ist. Wer also das Erleben als dem Verstehen entgegengesetzt versteht, spricht dem Kino das Potenzial ab, die Welt nach Verlassen des Kinosaals mit neuen Augen zu sehen; für den oder die kann das Kino nicht mehr sein als ein Ort der folgenlosen Attraktion.

In Tian Xiaopengs aufwendig animiertem Deep Sea erscheint die Lage auf den ersten Blick anders gelagert. Als die junge Shenxiu mit ihrem Vater, dessen neuer Partnerin sowie ihrem neuen Halbbruder im Kleinkindalter eine Kreuzfahrtreise antritt, im Zuge derer sie eines Nachts bei heftigem Wellengang von Bord gespült wird, rettet sie sich soeben auf einen aufblasbaren Entenreifen und befindet sich fortan in einem Zustand zwischen Leben und Tod, den wir, wie Shenxiu an ihre Innenwelt gebunden, einzig als farbenprächtiges, von anthropomorphen Meereslebewesen bevölkertes Traumland erleben. Zu Beginn dieser inneren Reise treibt Shenxiu durch ein großes Tor, auf dessen Inschrift wir lesen: „Ihr Besuch wird Sie bereichern.“ In einem Film, der sich in jeder Einstellung darum bemüht zeigt, kleinste visuelle Details unterzubringen, liegt es nahe, diese Botschaft nicht nur als buchstäblich für Shenxius Besuch im fahrenden Tiefsee-Spitzenrestaurant zu fassen, sondern auch für Shenxius Reise durch das Unbewusste im Allgemeinen. 

Sich auf narrativer Ebene gänzlich der Traumwelt Shenxius verschreibend, erinnert Tian Xiaopengs Welt unverkennbar an Miyazakis Das wandelnde Schloss und Chihiros Reise ins Zauberland, verfolgt aber mit einer Mischung aus Tuschemalerei, schauspielbasierten Charakteranimationen und computergenerierten, dreidimensionalen Kamerafahrten einen visuellen Ansatz, der sich mit seiner überbordenden Farbdynamik und -palette allem voran gegenwärtigen Sehgewohnheiten des Überwältigungskinos verpflichtet. Acht Jahre nachdem Tian Xiaopengs Debütfilm Monkey King: Hero is Back am heimischen Box Office durch Mundpropaganda schnell vom Geheimtipp zum damals finanziell erfolgreichsten Animationsfilm der chinesischen Kinogeschichte avancierte, markiert der bei der Berlinale 2023 in der Sektion Generation angelaufene Deep Sea nun abermals ein unter größtem Aufwand produziertes CGI-Abenteuer, dessen visueller Stil sich in der Traumwelt Shenxius an chinesischen Tuschezeichnungen orientiert. Farbe erscheint so weniger als geschlossene Masse denn als aus feinen Partikeln zusammengesetzt und dynamisiert somit Übergänge der breit angelegten Farbpalette, was insbesondere jenen Szenen zugutekommt, in denen Xiaopeng seine Welt in sprudelndes Wasser taucht. 

Wenn allerdings die ganze Welt bunt ist, wirkt bald gar nichts mehr bunt. Sichtlich von der thematischen Schwere überfordert, prasseln die Farben allzu oft als unaufhörlicher Starkregen auf das Publikum ein, während auch die fiktive CG-Kamera nur selten zur Ruhe findet und zudem wiederholt zwischen Schärfe und Unschärfe changiert. Der Fokus der Geschichte scheint in jenen Szenen gleich doppelt verlustig gegangen, denn statt seine Themen zu umkreisen, verfolgt Tian Xiaopeng ein additives Erzählverfahren, was vielen der Aspekte, die er aufgreift, die Möglichkeit nimmt, ihr Potenzial zu entfalten. Die permanente Smartphone-Evaluierung der Gastronomie etwa, im Zuge derer der Finger auf dem Handy-Display zur Drohung geriert, suggerierend, dass ein falscher Klick den Ruf eines Restaurants zerstören kann. Doch als das Tiefsee-Restaurant nach einem durch Shenxiu verursachten Fiasko seine für das Geschäft essentielle 5-Sterne-Bewertung verliert und Shenxiu im Folgenden bei Chefkoch Nanhe anheuert, erstarrt die Szene regelrecht in einer rein auf Funktionalität ausgerichteten Montage, während die fünf Sterne – peu à peu – zurückgewonnen werden. Zudem schneidet sich die betonte Subjektivität der Kamera mit unserer Draufsicht auf den Lauf der Dinge, da Shenxius erzählperspektivische Privilegierung  kaum weiter herausgestellt wird als durch Flashback-Szenen, in denen sie sich nach jener Zeit zurücksehnt, da ihre Mutter noch mit ihrem Vater zusammenlebte. 

Dass der in China als Animationspionier geltende Tian Xiaopeng der Ausgestaltung seines Figurenpersonals und seiner Geschichte weniger Zeit gewidmet hat als der Entwicklung seiner animierten Welt, liegt angesichts der siebenjährigen Entstehungsphase auf der Hand. Statt sich jedoch ganz dieser übersprudelnden Form hinzugeben, zwängt er sie in die engen Maschen einer Geschichte, die wie am Reißbrett entworfen scheint. Durch diese formale Unterordnung relativiert sich schnell all die Vorstellungskraft, der es bedurfte, um diese Welt zu erschaffen. Sie stößt da an ihre Grenzen, wo es darum geht, diese mit Leben zu füllen. Da taugt es dann auch zu einer gewissen Pointe, dass Shenxius Fantasie sie nicht dazu befähigt, eine Welt außerhalb unseres real existierenden kapitalistischen Gesellschaftssystems zu denken. Denn wirft man einen Blick auf die Strukturiertheit ihrer erträumten Welt, gelangt man unweigerlich zur Einsicht, dass sich die in der Wirklichkeit vorzufindenden Klassenkonstellationen als so immanent erwiesen haben, dass sie auch in Shenxius Unbewusstes vorgedrungen sind. Wenn wir etwa unter Deck eine in Reih und Glied in die Pedalen tretende, schweißgebadete Nagetier-Arbeiterschaft dabei beobachten, wie sie selbstausbeuterisch die Schiffsturbine und damit den gesellschaftlichen Motor am Laufen halten, so müssen wir erkennen, dass wir jenen Zeitpunkt längst überkommen haben, da wir noch in der Lage waren, uns eine klassenlose Gesellschaft zu erträumen.

Deep Sea (2023)

Shenxiu geht mit ihrem Vater, dessen neuer Frau und ihrem kleinen Bruder an ihrem Geburtstag an Bord eines Kreuzfahrtschiffs. Sie sehnt sich nach ihrer Mutter, die die Familie verlassen hat, und erinnert sich an eine Geschichte, die ihre Mutter erzählte: Wenn du dir an deinem Geburtstag etwas wünschst, wird das magische Wesen Hyjinx den Wunsch in Erfüllung gehen lassen. Als das Schiff in einen schweren Sturm gerät, geht Shenxiu über Bord und erwacht in einer fantastischen Unterwasserwelt aus wirbelnden Farben und faszinierenden Kreaturen. Ihr begegnet tatsächlich die vieläugige Hyjinx, die Shenxiu zu Nanhe bringt, einem vor Ideen und Einfällen sprühendem Koch und Kapitän auf einem verrückten Unterwasserrestaurant. Gemeinsam begeben sie sich auf die Suche nach Shenxius Mutter und dem Auge der Tiefsee. Shenxiu braucht dabei all ihren Mut, um dem gefürchteten Roten Phantom entgegenzutreten und lernt, schwere Stürme zu bestehen. (Quelle: Leonine)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen